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Benvenuti statt Abschiebung

In einem süditalienischen Dorf werden Flüchtlinge mit offenen Armen empfangen

Von Anna Maldini, Riace *

Die europäische Flüchtlingspolitik ist von Abschottung und Zurückweisung geprägt. Dass es auch anders gehen kann, zeigt der Ort Riace in Kalabrien. Hier finden Migranten eine neue Heimat.

Bürgermeister Domenico Lucano ist sichtlich zornig. Er wird immer lauter und starrt so wutentbrannt auf sein Telefon, dass dem Menschen am anderen Ende der Leitung eigentlich heiß und kalt werden müsste. »Ich habe hier drei Jugendliche. Minderjährige. Und Sie sagen mir jetzt ernsthaft, dass ich sie wegschicken soll? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein! Wie stellen Sie sich das vor? Soll ich sie auf die Straße setzen? Nach vier Monaten, in denen sie sich endlich etwas eingelebt und Freunde gefunden haben?« Lucano verfällt immer mehr in seinen kalabresischen Dialekt und schreit jetzt richtig. »Ach, lassen Sie mich doch mit Ihrer Bürokratie in Ruhe! Und wenn Sie mir für die drei Jungen kein Geld mehr überweisen wollen, dann stecken Sie es sich doch sonst wo hin. Wir werden sie schon durchfüttern.« Spräche er nicht ins Handy, würde er den Hörer jetzt auf die Gabel knallen. Dann sieht mich der Lokalpolitiker an und sagt: »Ich kann jetzt nicht mit Ihnen reden und erst recht kein Interview geben. Ich bin zu wütend.«

Der Bürgermeister des Dorfes Riace an der Küste Kalabriens blickt auf den Tisch in dem kleinen Büro, in dem über das Schicksal von fast 300 Flüchtlingen aus Nordafrika, Syrien, Eritrea, Somalia und Nigeria entschieden wird. Er versucht, sich zu beherrschen, doch dann bricht es wieder aus ihm heraus: »Das war ein Beamter aus dem Innenministerium, der für die Unterbringung der Flüchtlinge in unserer Region verantwortlich ist. Für ihn sind sie Akten, für uns Menschen. Menschen, die unsere Hilfe brauchen und die wir hier willkommen heißen. Hier in Süditalien sind wir gastfreundlich. Wir wissen, wie es ist, wenn man in ein fremdes Land emigrieren muss. Da ist es doch nur normal, dass wir uns um die Flüchtlinge kümmern, die übers Meer gekommen sind.«

Riace hat nicht einmal 2000 Einwohner. Die an der Stiefelspitze der italienischen Halbinsel gelegene Gemeinde war im Land eigentlich nur bekannt, als hier 1972 vor der Küste zwei überlebensgroße griechische Bronzestatuen aus dem fünften Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung gefunden wurden. Die stehen mittlerweile in einem Museum 130 Kilometer entfernt und das Dorf hat überhaupt nichts von diesen Sehenswürdigkeiten. Jetzt ist Riace vielmehr berühmt, weil man hier eine vollkommen neue Form der Aufnahme von Flüchtlingen und Asylsuchenden praktiziert, die angesichts der nicht nachlassenden Versuche von Menschen, in Europa ein neues Leben zu beginnen, von Vorbild sein könnte.

Anstatt die Neuankömmlinge entsprechend gängiger Praxis im Belpaese in anonyme Auffanglager zu stecken, in denen sie monate- und manchmal jahrelang vor sich hinvegetieren, während sie auf die Entscheidung einer Bürokratie warten, die sie nicht verstehen, heißt es hier: Benvenuti! (Willkommen). In Wohnungen können die Flüchtlinge als Familien, Freunde oder auch individuell leben. Sie brauchen nur ein paar Schritte zu gehen und schon kommen sie in das Büro (dasselbe, in dem Bürgermeister Lucano so lauthals seinen Unmut geäußert hat), wo sie immer einen Ansprechpartner finden. Jemanden, der ihre Sorgen ernst nimmt und ihnen mit Engelsgeduld – halb auf italienisch, halb auf englisch und auch mit Händen und Füßen – zum Beispiel den aktuellen Stand ihres Asylgesuchs erklärt.

Jeder Neuankömmling bekommt zudem monatlich sogenannte Boni im Wert von 250 Euro ausgehändigt, mit denen er in den Geschäften der Gegend einkaufen kann. Dieses »Spielgeld« wird von den Läden und dem kleinen Supermarkt gern genommen. Niemand muss sich hier diskriminiert fühlen, wenn er an der Kasse mit den kunterbunten Scheinen zahlt, die der Bürgermeister drucken ließ. Zu den einzelnen Flüchtlingen hat man eine persönliche Beziehung, heißt es von den Dorfbewohnern. Man hilft, sich in dem Warenangebot zurechtzufinden oder gibt Tipps, wie Spaghetti richtig gekocht werden. So gibt die Verkäuferin der jungen Mutter aus Somalia gerne eine Schnellkurs. Und dem schwarzen Muslim, dessen Namen sie nicht aussprechen kann, sagt sie geduldig, in welcher Salami Schweinefleisch steckt und in welcher nicht. »Diese armen Menschen«, meint sie. »Die haben so viel Schlimmes erlebt. Dann sollen sie doch zumindest Riace und uns in guter Erinnerung behalten.«

Alle paar Tage kommt eine Art fliegender Händler vorbei, der in seinem kleinen Kombi Lebensmittel mitbringt, die man in den Läden nicht findet. Dieses Mal hat er Basmatireis und Okraschoten dabei. Vor seinem Wagen hat sich schnell eine kleine Menschenmenge eingefunden: Während die Erwachsenen das Angebot begutachten, toben die Kinder auf dem Spielplatz, und es ist schwer auszumachen, wer Ausländer und wer Einheimischer ist.

Wenn der ehemalige Chemielehrer Domenico Lucano von »seinem Modell« spricht, ist er sichtlich zufrieden. Grundlage ist die finanzielle Hilfe vom Staat. Für jeden Flüchtling stellt Italien täglich 35 Euro bereit, egal ob die Person in einem Auffanglager untergebracht ist – in Italien benutzen viele dafür das deutsche Wort »Lager«, um zu unterstreichen, wie unmenschlich diese Strukturen sind – oder in Projekten wie Riace. Mit diesem Geld mieten Lucano und seine Mitarbeiter die Wohnungen im Dorf an. Viele stehen hier leer, weil immer mehr Einwohner das Dorf verlassen. Auch die Gutscheine sowie das Taschengeld von etwa einem Euro pro Tag, , das meist für Zigaretten und Telefonkarten draufgeht, werden durch die staatlichen Mittel finanziert. Außerdem hält man damit die Struktur aufrecht, die notwendig ist, um die Flüchtlinge angemessen zu betreuen.

Maria ist eine von den etwa 60 Frauen – es sind auch einige Männer dabei –, die an dem Projekt »Riace heißt willkommen« mitarbeiten. Sie haben kleine Genossenschaften und Vereine gegründet, die vom Innenministerium eine bestimmte Anzahl von Flüchtlingen anvertraut bekommen. Dafür verdienen sie um die 500 Euro monatlich. »Theoretisch gesehen ist dies ein Halbtagsjob«, sagt Maria, »aber tatsächlich sind wir 24 Stunden pro Tag im Einsatz.« Das gilt vor allem jetzt, da ihr Verein 15 minderjährige Jungen aus Ägypten betreut, die vor einigen Monaten auf der Insel Lampedusa ankamen. »Um die muss man sich natürlich rund um die Uhr kümmern. Ich koche auch für sie, helfe ihnen dabei, ihre Wohnung in Schuss zu halten. Und vor allem habe ich immer ein offenes Ohr für ihre Sorgen«, so Maria.

In diesem Moment kommt Ahmed herein und nimmt Maria in den Arm. »Er nennt mich Mamma«, sagt die 50-Jährige. »Mein Mann Enzo schimpft manchmal, weil ich nie zu Hause bin und kaum Zeit für ihn habe. Aber wenn meine Jungs ihn umarmen und Papa nennen, dann schmilzt auch er dahin.«

Enzo sieht das natürlich anders: Der Staat beute seine und die anderen Frauen aus, meint er. Sie würden immer dann in die Bresche springen, wenn die Behörden versagen. »Sehen Sie sich Robert an«, sagt er und zeigt auf einen schwarzen Jungen, der mit seinem Handy rumspielt. »Als er im vergangenen Oktober kam, hatte er noch nicht einmal Schuhe. Wir haben ihn eingekleidet – und nicht etwa in Billigläden, weil er ja nicht anders als die Jungs aus Riace aussehen soll. Und dann habe ich ihm auch das Handy gekauft und einen guten Vertrag ausgehandelt. Er hat Freunde und Verwandte anderswo in Italien und Europa, und mit denen muss er ja schließlich irgendwie in Kontakt bleiben, während er hier auf sein Flüchtlingsvisum wartet.« Das sieht Enzo ein. Sehr viel weniger aber kann er verstehen, dass das Ministerium in Rom das Geld für Robert frühestens nach sechs Monaten überweist. »Auf einige Gelder warten wir schon seit einem Jahr«, schimpft er. »Und dann gehe ich in die Läden und bitte um einen weiteren Zahlungsaufschub. Das ist doch nicht in Ordnung.« Für seine Frau Maria sind das Kleinigkeiten: »Wenn diese Jungen mich Mamma nennen, dann denke ich daran, dass irgendwo in Ägypten eine Frau sitzt, eine Mutter, die doch nur möchte, dass es ihrem Sohn gut geht. Das gibt mir Kraft und der Rest ist egal.« Enzo verdreht die Augen.

Domenico Lucano ist seit fast zehn Jahren Bürgermeister von Riace. In dieser Zeit hat er mit seinen Mitarbeitern ein System auf die Beine gestellt, das letztlich allen zu Gute kommt: In das Dorf fließt etwas Geld und die Flüchtlinge werden von Menschen und einer Struktur aufgenommen, die sie wirklich willkommen heißen. »Eigentlich wollte ich noch viel mehr erreichen«, so der Bürgermeister: »Ich wollte, dass die Flüchtlinge bei uns bleiben, dass sie unserem kleinen Dorf neues Leben einhauchen. Aber bis jetzt funktioniert das nicht: Es gibt keine Arbeit, für niemanden. Deswegen werden uns auch Ahmed und Robert in ein paar Monaten, wenn sie endlich ihre Papiere haben, verlassen und nach Deutschland oder Frankreich gehen. Aber manchmal kommt auch jemand wieder«, sagt Lucano. Und zeigt auf einen dunkelhäutigen Mann, der mit weißen Kollegen auf einem Baugerüst arbeitet. »Das ist Mohammed. Er war über ein Jahr in Norwegen. Aber dann stand er eines Tages wieder bei mir im Büro. Später hat er Diletta geheiratet und jetzt haben sie eine kleine Tochter. Ich war Taufpate. Mehr kann man doch nicht erwarten, oder?«

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 12. März 2014


Vorzeigeobjekt

»Città Futura« Riace weckt internationales Interesse **

Der 1. Juli 1998 ist ein Wendepunkt in der Geschichte von Riace. 200 kurdische Flüchtlinge strandeten an diesem Tag mit ihrem Boot an der Küste Kalabriens unweit des Dorfes. Statt mit anzusehen, wie sie in eines der Auffanglager verfrachtet wurden, bot Bürgermeister Domenico Lucano ihnen Häuser in seinem Dorf an, die aufgrund des Bevölkerungsschwunds leer standen. Denn von einst 3000 Einwohnern waren nur noch etwa 800 in Riace ansässig.

Mehrere hundert Migranten leben heute in der Gemeinde. Das Dorf liegt inmitten einer der strukturschwächsten Regionen des Landes. Die Zuwanderer haben so auch zu einem wirtschaftlichen Aufschwung beigetragen. Werkstätten, Bäckereien und Friseurläden laufen wieder. Auch Handwerkskünste wie Töpfern und Schneidern sind neubelebt. Selbst eine Schule gibt es wieder. Die Kinder lernen hier als erste Sprache Italienisch.

Domenico Lucano ist durch seinen Umgang mit Flüchtlingen international bekannt geworden. 2010 wurde er sogar mit dem »World Mayor Award« für sein besonderes Engagement geehrt. Seit 15 Jahren arbeitet der Verein »Città Futura« (Zukunftsstadt), mit dem die Integration von Flüchtlingen in Riace begann.

Dem Beispiel sind weitere Kommunen in Italien gefolgt. Doch in ihrem Umfang sind die Programme in Riace noch immer ein Pilotprojekt. Auch, weil nach wie vor der politische Wille zur Aufnahme und menschenwürdigen Versorgung von Flüchtlingen sowie Migranten in Italien, aber auch in vielen anderen Teilen Europas fehlt.

Für Riace interessieren sich allerdings inzwischen auch internationale Organisationen. Der Berliner Verein »Courage gegen Fremdenhass e.V.« etwa erarbeitet gerade im Rahmen seiner Reihe »Topographien der Menschlichkeit« eine Wanderausstellung und ein Katalogbuch für das deutschsprachige und das italienische Publikum. »Es geht um eine Bestandsaufnahme von Erfolgsmethoden in besonderen Situationen in der Geschichte Europas. Wir wollen Best-Practice-Beispiele aufzeigen, die Anwendung finden, wenn es am schwierigsten und am nötigsten ist, menschlich zu handeln«, erklärt Anna Tüne gegenüber »nd« die Idee. Riace wird demnach das dritte Projekt der »Topographien der Menschlichkeit« sein. Die erste Arbeit befasst sich mit dem »Rettungswiderstand in Dieulefit/Frankreich«. Anfang 2015 soll das Teilprojekt zum Rettungswiderstand in Bulgarien während des Zweiten Weltkrieges veröffentlicht werden. Darauf folgt Riace. kah

Informationen und Kontakt unter: www.topographiendermenschlichkeit.de




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