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Krokodilstränen im Bundestag, 24.04.2015

Abgeordnete und Regierung gedenken mit Schweigeminute an Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer. Merkel-Kabinett will Seenotrettung ausweiten – und bläst zur Jagd auf Fluchthelfer

Von Rüdiger Göbel *

Mit einer Schweigeminute haben die Abgeordneten des Deutschen Bundestages am Mittwoch die Debatte zur Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer begonnen – im Gedenken an die mehr als 1.000 Menschen, die am Wochenende beim Versuch ertrunken sind, in überfüllten Kuttern von Libyen aus an die Küsten der EU zu gelangen. Statt den Menschen, die vor den Kriegen in Syrien, Somalia, Libyen, Irak oder Afghanistan fliehen und in der EU ihr Recht auf Asyl geltend machen wollen, gefahrlose Routen nach Europa aufzuzeigen, soll die Flucht in den Norden gänzlich blockiert werden. Geplant ist, leere Schiffe von sogenannten Schleusern zu zerstören und so die waghalsigen Fahrten über das Mittelmeer zu unterbinden – ohne freilich Alternativen zu formulieren, wie Flüchtlinge sonst nach Deutschland oder ein anderes der 28 EU-Mitgliedsländer kommen könnten. Zur humanitären Bemäntelung des geplanten »robusten« Militäreinsatzes soll die Seenotrettung auf bescheidenem Niveau ausgeweitet werden. Die Staats- und Regierungschefs der EU kommen am heutigen Donnerstag in Brüssel diesbezüglich zu einem Sondergipfel zusammen.

Als größter Heuchler vor dem Herrn erwies sich am Mittwoch in der Parlamentsstunde Bundesinnenminister Thomas de Maizière. Der CDU-Politiker will sich »stärker als bisher« an der Seenotrettung von Flüchtlingen beteiligen. Die bestehenden Maßnahmen müssten konzentriert und verbessert werden, und zwar »gerne auch unter stärkerer deutscher Beteiligung«, so der Minister. Die EU-Kommission habe eine Verdopplung bei der Seenotrettung versprochen, »das kann auch eine Verdreifachung sein«. Und weiter: »Migration darf keine Frage von Tod und Leben sein.« Ähnliches hatte zuvor seine Chefin, Bundeskanzlerin Angela Merkel, über ihren Sprecher verlauten lassen. – Zur Erinnerung: De Maizière war es, der im vergangenen Jahr dafür gesorgt hatte, dass die italienische Seenotrettungsmission »Mare Nostrum« nicht fortgeführt wird, indem dafür EU-Gelder verweigert wurden. Noch in der vergangenen Woche hatte Merkels Minister behauptet, das Hilfsprogramm habe »Schleuserbanden« begünstigt.

Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen seien es leid, die Betroffenheitsfloskeln der EU-Innenminister zu hören, konterte die Linke-Politikerin Ulla Jelpke den Minister. »An den Hunderten Menschen, die in den vergangenen Tagen im Mittelmeer ertrunken sind, tragen Sie und die anderen EU-Innenminister mit Schuld«, sagte sie an de Maizière gewandt. »Schicken Sie Fähren statt Kriegsschiffe nach Nordafrika!«

Die Grünen-Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt konstatierte mit Blick auf die Toten im Mittelmeer: »Europa ist gescheitert.« Nicht das Mittelmeer sei grausam, sondern die Abschottungspolitik. Nötig seien sichere Korridore für Flüchtlinge, eine funktionierende Seenotrettung und eine großzügige Aufnahme von Schutzsuchenden, so die Oppositionspolitikerin. Ähnlich hatten sich am Mittwoch auch die Organisationen Amnesty International und Pro Asyl geäußert.

Auf Weisung des Bundesinnenministeriums beteiligt sich die deutsche Polizei übrigens an der Kriminalisierung von Fluchthilfe auf EU-Ebene. Der Kampf gegen unerwünschte Migration – im Ministersprech: »banden- und gewerbsmäßige Einschleusung« genannt – läuft unter dem Motto »Operation Jagdrevier« (Hunting Ground). Darauf machte am Mittwoch der Linke-Abgeordnete Andrej Hunko aufmerksam.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 23. April 2015


Robuster Einsatz

Krieg gegen Flüchtlinge

Von Rüdiger Göbel **


Statt Fluchtursachen wollen EU und Bundesregierung Flüchtlingshelfer bekämpfen – zu Wasser, zu Lande und aus der Luft, koste es, was es wolle. Angelehnt an die Diktion aus dem »Krieg gegen den Terror« ist von einem »robusten Antischleppereinsatz« die Rede, an dem sich auch die Bundeswehr beteiligen soll. Menschen, die vor Elend und Krieg fliehen, sind damit so etwas wie die Halsabschneider vom »Islamischen Staat«.

Im Verteidigungsministerium laufen bereits entsprechende »Planspiele« für eine »konzertierte Militäroperation gegen die Schleuserbanden auf dem Mittelmeer«, so Spiegel online am Mittwoch. Vorbild ist die »Piratenbekämpfung« vor der Küste von Somalia. Auf dem Sondertreffen der EU in Brüssel will Kanzlerin Angela Merkel erste Vorschläge für den avisierten Einsatz im Mittelmeer vorlegen. Angestrebt werde ein gültiges Mandat der UNO oder ein gemeinsamer Beschluss der Europäischen Union, letzteres wäre eine Selbstermächtigung.

Wie das Ganze, also der »Krieg gegen die Schleuser« laufen soll, war am Mittwoch im Kabinett offensichtlich nicht allen klar. Entwicklungshilfeminister Gerd Müller (CSU) konnte in der Fragestunde im Bundestag keine Antworten auf die zentralen Fragen geben: Wenn Bundesinnenminister Thomas de Maizière tönt, »Schleuserboote« sollen vor der libyschen Küste oder bereits in den Häfen des nordafrikanischen Landes vernichtet werden – wie soll das konkret erfolgen? Mit der Luftwaffe, mit Raketen, mittels Kampfdrohnen? Laut Minister Müller hat die Bundesregierung dazu »noch keine Meinung«. Nicht beantwortet wurde auch die Frage, ob die Bundesregierung ein »robustes Mandat« zur Zerstörung der Flüchtlingsschiffe wirklich unterstützt. Und schließlich: Was soll mit den Flüchtlingen in Libyen passieren – nach Angaben von de Maizière immerhin eine Million Menschen, die dort auf ein Übersetzen nach Europa warten? Sollen die allen Ernstes allesamt in Lager eingesperrt werden, finanziert von der EU? Auch dazu hat die Bundesregierung keine Idee – zumindest nicht offiziell.

Neben dem Militäreinsatz gegen die »Sklavenhändler des 21. Jahrhunderts«, wie Italiens Regierungschef Matteo Renzi die »Schleuserbanden« titulierte – irrigerweise, denn dies würde bedeuten, dass deren Fracht in Europa willkommen wäre –, soll die Seenotrettung im Mittelmeer (wieder) ausgeweitet werden. EU und Bundesregierung stellen dies nach den Schreckensberichten über Hunderte Ertrunkene im Mittelmeer in den vergangenen Tagen nun in Aussicht – ohne freilich wenigstens das Niveau der im vergangenen Herbst eingestellten italienischen Mission »Mare Nostrum« erreichen zu wollen. Das Merkel-Kabinett kann oder will nicht beantworten, wie die Hilfe auf hoher See funktionieren soll, wenn die hierfür zur Verfügung gestellten Mittel nicht ausreichen. Andererseits: Wenn an der libyschen Küste nach erfolgreichem EU-Militäreinsatz kein seetaugliches Schiff mehr liegt, kann man sich die Seenotrettung sparen.

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 23. April 2015 (Kommentar)


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