Fluchtgrund NATO
"Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört": Aussagen einer Konferenz der Gruppe "Lampedusa in Hamburg"
Von Martin Dolzer *
Warum verlassen Menschen ihre Heimatländer – Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört« war das Motto einer Konferenz der Flüchtlingsgruppe »Lampedusa in Hamburg«, zu der am Samstag 250 Menschen ins Akonda-Eine-Welt-Café in der Hansestadt kamen. Ali Ahmet, ein Sprecher der 300 libyschen Kriegsflüchtlinge, beschrieb deren Situation so: Ihr Leben stehe immer noch auf dem Kopf – »nach einem Jahr Leben auf der Straße, nach drei Jahren seit dem Trauma des NATO-Krieges in Libyen sowie zehn Monaten des Kampfes für die Anerkennung unserer Rechte in Hamburg zwischen der Solidarität aus der Gesellschaft und der Ignoranz der Regierung«.
Vor einem Jahr hatte die EU das Hilfsprogramm »Emergencia Africa Norte« beendet. Die Flüchtlinge wurden trotz ihres humanitären Aufenthaltsstatus aus italienischen Flüchtlingseinrichtungen vertrieben. Ohne Veränderung der rechtlichen Situation, so daß sie endlich ein normales Leben beginnen können, wachse die psychische Belastung der Mitglieder der Gruppe mit der Zeit immer mehr, so Ahmet. »Wir wären nicht hier, wenn unsere Heimatländer nicht destabilisiert oder zerstört wären. Wir kämpfen trotz Spaltungsversuchen des Senats weiter als Gruppe für ein Bleiberecht gemäß Paragraph 23 Aufenthaltsgesetz.«
Die Hintergründe von Flucht und Migration hatte in einem Einführungsreferat Dr. Boga Sako Gervais erklärt, der aufgrund seiner politischen Aktivitäten die Elfenbeinküste verlassen mußte und seither als Flüchtling in Italien lebt. Er sparte nicht mit Kritik an der EU. Der von europäischen Regierungen proklamierte Menschenrechtsanspruch werde »durch die kolonialistische Ausbeutung Afrikas und die EU-Flüchtlingspolitik ad absurdum geführt«, so Sako Gervais. Demokratie könne nicht von außen auferlegt werden, sie müsse in den Gesellschaften wachsen. Gewachsene Demokratiebewegungen in den Staaten Afrikas würden aber insbesondere von Europa und den USA zugunsten willfähriger »Regierungen« bekämpft. »Flüchtlinge sind keine Kriminellen, sondern Betroffene des imperialistischen Systems. Die Forderung der Lampedusa-Gruppe nach einem würdigen Leben muß anerkannt werden. Wir können mit den Kämpfen um unser Recht Geschichte schreiben.«
In einem Beitrag über den Sudan skizzierte der politische Flüchtling Maissara M. Saeed die Auswirkungen »internationaler Schutzpolitik«. Nach jahrhundertelanger Abhängigkeit von wechselnden Kolonialmächten habe das Land sich seit seiner Unabhängigkeit 1956 nicht stabilisieren können. Seit Jahren führen die UN Friedenserhaltungsmissionen durch. Diese seien jedoch fragwürdig, da es keinen Frieden gebe und der Krieg sich statt dessen auf weitere Regionen ausweite. Der Diktator Omar Al-Baschir kam 1989 an die Macht. Er wurde inzwischen vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag wegen Völkermords angeklagt. 2011 erkämpfte der Südsudan den Status einer Autonomen Republik. Der politische Kopf der dortigen Bevölkerung, John Garang, wurde zum Vizepräsidenten des Landes und war Hoffnungsträger für Einheit und Stabilisierung. Er kam bei einem mysteriösem Hubschrauberabsturz ums Leben. »Experten sagen, daß Garang beseitigt wurde, um eine eigenständige Entwicklung Sudans zu verhindern, für die er mit Unterstützung einer Mehrheit der Bevölkerung eintrat«, so Saeed. Insbesondere Regierungen und Wirtschaftsverbände aus Europa und Deutschland pflegen intensive wirtschaftliche Kontakte mit dem Al-Baschir-Regime.
Der Völkerrechtler Prof. Dr. Norman Paech analysierte den Libyenkrieg: »Die NATO-Staaten, insbesondere Frankreich, England und die USA, haben die Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrates mißbraucht, um Präsident Ghaddafi zu stürzen. Die stabilisierende Funktion Libyens für Afrika war der NATO und Verbündeten wie Saudi-Arabien und Katar seit jeher ein Dorn im Auge«, so Paech. Vermittlungsversuche der Afrikanischen Union seien blockiert worden, mehr als 40 000 Menschen im Krieg gestorben. Deutschland, die EU und die NATO setzten in den letzten Jahren eine immer rücksichtsloser werdende Politik um, die in Kontinuität zu jahrhundertelanger Kolonialpolitik stehe. Weitere Beispiele dafür seien die Kriege in Afghanistan und Irak. In Libyen sei, wie auch in Syrien, das Agieren von Al-Qaida-Gruppen zur Durchsetzung eigener Ziele toleriert worden. »In Syrien haben bisher hauptsächlich Rußland und China durch ihre Vetopolitik eine Militärintervention und Filetierung des Landes verhindert«, befand Paech.
* Aus: junge Welt, Dienstag, 4, Februar 2014
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