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"Da werden Flüchtlingsgruppen gegeneinander ausgespielt"

Die grün-rote Landesregierung in Baden-Württemberg lässt verstärkt abschieben. Proteste werden von Behörden behindert. Ein Gespräch mit Dirk Vogelskamp *


Dirk Vogelskamp ist Referent beim Komitee für Grundrechte und Demokratie.

Zu Beginn dieser Woche hat die baden-württembergische Landesregierung von Bündnis 90/Die Grünen und SPD erneut 69 Flüchtlinge abschieben lassen. Wie erklären Sie sich dieses rigide Vorgehen ausgerechnet einer Landesregierung, die aus Grünen und Sozialdemokraten besteht?

Sie ist der Überzeugung, dass es sich bei Asylbewerbern aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawien nicht um wirkliche Flüchtlinge handelt, sondern um Armutsmigranten. Sie erkennt die Kritik nicht an, dass es zu einem großen Teil Roma sind, die in ihren Herkunftsländern massiver Diskriminierung unterliegen und die keinen Zugang zu elementaren Menschenrechten haben. Vielleicht sieht sich diese Regierung auch aus machtpolitischen Gründen unter Druck, nachweisen zu müssen, dass sie ebenso konsequent gegen Flüchtlinge vorgehen kann, wie es eine CDU-geführte Regierung tun würde.

Zudem lässt das von der SPD geleitete Innenministerium kein Verständnis für die Forderung erkennen, dass Roma aus Serbien, Mazedonien und Bosnien vor den drastischen Folgen von Ausgrenzung und Diskriminierung geschützt werden müssen. Selbst eine kranke Mutter mit mehreren schwerkranken Kindern wurde in voller Kenntnis der Sachlage ins Elend abgeschoben. Das sind die menschenrechtswidrigen Konsequenzen aus dem Gesetzespaket mit den vermeintlich sicheren Herkunftsstaaten.

Schon seit geraumer Zeit forciert die Landesregierung den Abschiebedruck auf Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien. Mit welcher Begründung?

Es ist immer wieder gesagt worden, man müsse Platz schaffen für die wirklich Verfolgten, gemeint sind vor allem Flüchtlinge aus Syrien. Die Landesregierung unterstellt – ohne das belegen zu können! –, dass die Aufnahmebereitschaft der Bevölkerung strapaziert wird. Deshalb werden Flüchtlingsgruppen gegeneinander ausgespielt, um den Schein einer humanitären Politik wahren zu können. Und die Integrationsministerin hat eine Ausweitung der angeblich »sicheren Herkunftsstaaten« auf den Kosovo und Albanien gefordert.

Sie halten dieses Vorgehen für unmenschlich und falsch?

Und es ist gnadenlos. Damit werden die zahlreichen Berichte von Menschenrechtsorganisationen zur Lage der Roma-Minderheiten im ehemaligen Jugoslawien ignoriert.

Landesregierung und die zuständigen Behörden verweigern genauere Informationen – offenbar mit der Absicht, Proteste gegen die Sammelabschiebungen zu verhindern. Wie lässt sich derlei mit demokratischen Spielregeln in Einklang bringen, die ausgerechnet die Grünen gerne einfordern?

Diese Frage haben Flüchtlingsinitiativen an Abgeordnete des Landtags gestellt. Die Antwort war, dass im Fall von Abschiebungen polizeitaktische Gesichtspunkte Vorrang haben. Deshalb soll den Bürgern die Möglichkeit des wirksamen Protests genommen werden – und das, obwohl die Stärkung von Bürgerbeteiligung ein zentrales Ziel der Landesregierung war.

Antirassistische Gruppen, die in den vergangenen Wochen gegen die Abschiebungen protestierten, wurden teils sehr brutal von Polizeibeamten attackiert. Welche Informationen haben Sie darüber?

In mehreren Fällen wurden Blockaden gegen Abschiebungen von der Polizei akzeptiert und Räumungen als »unverhältnismäßig« bewertet und nicht zwangsweise durchgesetzt. In dieser Woche wurde zum ersten Mal eine Blockade durch einen massiven Polizeieinsatz aufgelöst. Es wird sich noch zeigen müssen, ob das eine Ausnahme war oder ob es künftig die Regel sein wird.

Interview: Markus Bernhardt

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 28. Mai 2015


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