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"Weil die EU den Menschen in den Mittelpunkt stellt"

Vor gut zwei Jahren erhielt die EU den Friedensnobelpreis. Noch immer sterben Tausende an ihren Außengrenzen

Von André Scheer *

In diesem Jahr sind nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) schon 30 Mal mehr Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken als im Vorjahreszeitraum. Seit dem 1. Januar seien mehr als 1.750 Flüchtlinge ums Leben gekommen, sagte IOM-Sprecher Joel Millman am Dienstag vor Journalisten in Genf. Vor einem Jahr habe es zu diesem Zeitpunkt 56 Opfer gegeben.

Allein am Sonntag hatten bei einer der bisher schlimmsten Tragödien vor der libyschen Küste nach UN-Angaben etwa 800 Menschen ihr Leben verloren. Nur 28 Menschen überlebten. Am Donnerstag wollen die Regierungschefs der EU zu einem außerordentlichen Gipfeltreffen, um über Maßnahmen zu beraten.

Vielleicht sollten sich die Damen und Herren dann noch einmal die schönen Worte anhören, die ihre Repräsentanten am 10. Dezember 2012 in Oslo von sich gegeben haben, als die EU den Friedensnobelpreis entgegen nahm. Der damalige EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy sagte damals: »Nach zwei schrecklichen Kriegen, die unseren Kontinent und die Welt in den Abgrund gestürzt haben, verwirklichte Europa doch einen dauerhaften Frieden. (…) Wir haben dauerhaften Frieden, keinen frostigen Waffenstillstand.«

Im Jahr zuvor waren die EU-Mitglieder Frankreich und Großbritannien führend an der militärischen Intervention in Libyen beteiligt, um Muammar Al-Ghaddafi zu stürzen. Die katholische französische Zeitung La Croix kommentierte die Folgen am Dienstag: »Seit dem Sturz von Ghaddafi im Jahre 2011 ist Libyen dem Chaos ausgeliefert. Das Land ist ein Zentrum des Menschenhandels und ein Stützpunkt von Terrornetzwerken geworden, die Nordafrika sowie die Sahelzone destabilisieren und ganz Europa bedrohen. (...) Ghaddafi ist gefallen, doch mit ihm auch die gesamte staatliche Struktur. Dies hat zum heutigen Chaos geführt.«

Ein Jahr später erklärte Van Rompuy in Oslo: »Für die Menschen war Europa ein Versprechen, Europa war die Hoffnung.« Für Hunderttausende ist es das heute noch, es ist zumindest die letzte Zuflucht vor Krieg, Elend, Unterdrückung, Hunger. Und Van Rompuy weiter: »Es hat funktioniert. Frieden ist nunmehr selbstverständlich. Krieg ist undenkbar. (...) Europa muss sein Friedensversprechen halten. Ich glaube, dass dies nach wie vor der letztendliche Zweck unserer Europäischen Union ist.«

Neben Van Rompuy stand der damalige EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso und ergriff ebenfalls das Wort: »Die Europäische Union strebt nicht nur Frieden unter den Nationen an. (…) Als Wertegemeinschaft verkörpert sie auch eine Vision der Freiheit und Gerechtigkeit (…) weil die Union den Menschen und die Menschenwürde in den Mittelpunkt stellt, weil sie unterschiedlichen Positionen Gehör verschafft und für Einigkeit sorgt.« Und weiter: »Wir leben alle auf dem selben Planeten. Armut, organisiertes Verbrechen, Terrorismus, Klimawandel kennen keine Landesgrenzen. Wir haben die gleichen Ziele und universellen Werte: Sie gewinnen in immer mehr Ländern der Welt an Boden. Wir teilen ›l’irréductible humain‹, die irreduzible Einzigartigkeit des Menschen. Wir alle sind nicht nur Teil unseres Landes, unseres Kontinents, sondern Teil der Menschheit.«

Das war schon damals geheuchelt und gelogen und ist es heute erst recht, wenn täglich, stündlich, Menschen an den Außengrenzen der EU sterben.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 22. April 2015


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