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Abgeschottetes Europa

Rückblick. Asylpolitik: Wenige Verbesserungen. Zugleich setzen Bundesregierung und EU weiter auf Abschreckung. Gegenbewegungen erstarken

Von Ulla Jelpke *

In diesem Jahr kamen so viele Asylsuchende in die Bundesrepublik wie seit 1997 nicht mehr. Ende November war die Marke von 100000 Antragstellern schon fast erreicht. Sie kamen vor allem aus der Russischen Föderation, Serbien und Mazedonien, Syrien und Afghanistan. Syrer erhielten in fast 100 Prozent der Fälle einen humanitären Schutzstatus, Serben und Mazedonier hingegen gar nicht. Diese unterschiedliche Behandlung begründete die gerade abgelöste Bundesregierung damit, daß nur die »wirklich Bedürftigen« Schutz erhalten sollen und das Asylrecht gegen vermeintlichen Mißbrauch geschützt werden müsse. Zugleich warnte Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) unausgesetzt vor der angeblichen »Einwanderung in die Sozialsysteme«. Früher hätte man weniger politisch korrekt einfach »Wirtschaftsasylanten« gesagt. Die neue Regierung wird umsetzen, was Friedrich forderte: Im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD ist verabredet, Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina zu »sicheren Herkunftsstaaten« zu erklären. Davon sind vor allem Roma getroffen, die vor bitterer Armut und massiver Diskriminierung fliehen. Ihre Asylanträge gelten künftig von vornherein als »offensichtlich unbegründet« und können unbesehen abgelehnt werden. In der Praxis war das allerdings auch bisher schon der Fall. Asylanträge von serbischen und mazedonischen Staatsangehörigen werden bevorzugt bearbeitet, um deren Aufenthalt schnell zu beenden. Flüchtlinge aus Herkunftsstaaten mit relativ hohen Anerkennungsquoten warten dagegen immer länger auf eine Entscheidung über ihre Anträge. Bei Afghanen vergehen mittlerweile im Schnitt 15 Monate bis zur Anerkennung – oder Ablehnung. 2012 waren es noch elf Monate.

Wie Bundesrepublik und EU tatsächlich mit den »wirklich Schutzbedürftigen« umgehen, zeigten die jüngsten Ereignisse vor der italienischen Insel Lampedusa. Am 3. Oktober sank vor deren Küste ein Schiff mit Flüchtlingen, 360 von ihnen starben. Wenige Tage später, am 11. Oktober, geriet ein Boot mit 480 Flüchtlingen nach einem Beschuß durch libysche Milizionäre, die das Boot am Verlassen der Gewässer des Landes hindern wollten, 80 Meilen südlich von Lampedusa in Seenot. Die italienischen Behörden reagierten auf einen Notruf von Bord des Bootes nicht. Erst nach vier Stunden erreichte ein maltesisches Flugzeug mit Schwimmwesten die Unglücksstelle. 268 Menschen waren zu diesem Zeitpunkt ertrunken.

Die europäische Öffentlichkeit reagierte auf die Katastrophe zwar mit Entsetzen. Es bleibt aber bei den alten Konzepten gegen Migration. Die EU-Kommission legte Anfang Dezember ein Papier vor, das nichts weniger als ein verschärftes »Weiter so« in der europäischen Abschottungspolitik bedeutet. Mehr Grenzüberwachung, mehr Anstrengungen im Kampf gegen Schleuser, mehr Einbindung von Transitstaaten wie Libyen in die Migrationsabwehr, mehr Mittel für die »Grenzschutz«agentur FRONTEX und das neue Meeresüberwachungssystem EUROSUR. Beide sollen auch auf militärische Mittel zurückgreifen können. Geändert hat sich einzig die Rhetorik: Öffentlich wird behauptet, all das solle dazu dienen, die Seenotrettung zu verbessern und den Tod von Flüchtlingen zu verhindern. Von der Schaffung legaler und ungefährlicher Einreisemöglichkeiten für Asylsuchende ist hingegen nur am Rande die Rede. Einzig Schweden und Deutschland organisierten 2013 die Aufnahme von syrischen Flüchtlingen direkt aus der Region. Doch die deutschen Landesinnenminister stockten erst Ende des Jahres ihre Zahl von 5000 auf 10000 auf. Angesichts von 2,5 Millionen syrischen Flüchtlingen, die sich in den Nachbarstaaten ihres Landes aufhalten, eine lächerliche Zahl. Daß die EU-Staaten noch nicht einmal ein gemeinsames Aufnahmeprogramm diskutiert haben, spricht Bände über den inneren Zustand des Staatenbundes, der 2012 den Friedensnobelpreis erhielt.

So verwundert es nicht, daß der Aufbau des »Gemeinsamen Europäischen Asylsystems« ebenfalls nur schleppend vorankommt. Die Standards der EU-Staaten bei der Bearbeitung von Asylanträgen und der Unterbringung von Flüchtlingen sind weiter höchst unterschiedlich, so daß von einer harmonisierten Praxis keine Rede sein kann. Partiell soll dem jetzt durch zwei neue Richtlinien zu den Aufnahmebedingungen und zur Durchführung der Asylverfahren begegnet werden, die im Juni dieses Jahres verabschiedet wurden und in den kommenden zwei Jahren umgesetzt werden müssen. Besonders in die Kritik geraten ist dabei die Aufnahmerichtlinie, weil sie eine Inhaftierung von Flüchtlingen ermöglicht.

Obwohl die Bedingungen insbesondere in Italien, Malta und Griechenland mittlerweile kaum noch humanitären Mindeststandards entsprechen, bleibt es beim sogenannten Dublin-System, demzufolge Asylverfahren in jenem Land durchgeführt werden müssen, das die Menschen als erstes betreten. Umso wichtiger ist daher die Einführung eines Eilrechtsschutzes vor sogenannten Rückschiebungen in andere EU-Staaten. In der Bundesrepublik können Asylsuchende nun innerhalb einer Woche gegen eine geplante Überstellung klagen, wenn sie befürchten, im zuständigen EU-Staat unmenschlich behandelt zu werden.

Für die Lebensqualität von Asylsuchenden in Deutschland bringen die Richtlinien keine Verbesserung. Residenzpflicht, Unterbringung in Sammellagern, eingeschränkter Arbeitsmarktzugang – all das wird weiter durch EU-Recht legitimiert. Doch der Druck gegen all diese Regelungen von Seiten der davon Betroffenenen wird immer stärker. Protestcamps, Hunger- und Durststreiks in Hamburg, Berlin oder München haben gezeigt, daß sich eine breite und selbstbewußte Bewegung der Migrantinnen und Migranten gegen rassistische Ausgrenzung formiert hat. Ihr größter Erfolg war es sicherlich, die Probleme von Geflüchteten in Deutschland einer größeren Öffentlichkeit bewußt gemacht zu haben.

* Aus: junge Welt, Samstag, 21. Dezember 2013


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