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Überfälliger Realitätscheck

Das Ausstellungskonzept für das "Zentrum gegen Vertreibungen" zwischen Fortschritt und alten Leerstellen

Von Velten Schäfer *

Sechs Jahre nach der allgemein verrissenen Ausstellung »Erzwungene Wege« liegt ein neues Konzept für die geplante Vertreibungs-Dauerausstellung in Berlin vor. In einigen Aspekten setzt es durchaus Achtungspunkte. Indes bleiben viele blinde Flecken - an bezeichnenden Stellen.

Wie es um das Geschichtsbild von BdV-Chefin Erika Steinbach bestellt ist, muss nicht debattiert werden. Zu unangenehm ist ihre schwarzbraune Tirade über die Polen in Erinnerung, die nach dem deutschen Einmarsch in der damaligen Tschechoslowakei symbolisch ein paar pittoreske Reitersoldaten alarmierten, was Steinbach vor fast genau zwei Jahren als eine polnische Erstmobilmachung auslegte. Sie musste daraufhin zähneknirschend die Erklärung abgeben, dass niemand die Absicht habe, die Geschichte des Zweiten Weltkrieges umzuschreiben.

Mit Spannung durfte man deswegen das Konzept für Steinbachs Lieblingsprojekt erwarten, das sogenannte Zentrum gegen Vertreibungen, das in Berlin am Anhalter Bahnhof eingerichtet werden soll. Nach vor allem polnischen Protesten sitzt die rechtsdrehende BdV-Chefin nun nicht in der »Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung«, die für den Inhalt jenes Museums verantwortlich ist. Und das jetzt vorgelegte Konzept zeigt, wie heilsam die erzwungene Teilemanzipation vom mit rechtsradikalen Hobbyhistorikern durchsetzen »Vertriebenen«-Milieu für das Ausstellungsvorhaben wirkt.

Ende der Verweigerung?

Wohl zum ersten Mal im weiteren Umfeld des BdV wird in dem 45-seitigen Exposé anerkannt, dass die Rolle der deutschen Minderheiten in Staaten wie Zwischenkriegspolen und der Tschechoslowakei ambivalent gewesen ist und deren Vertreibung nach 1945 auch damit zu tun hat, dass sie vor dem Zweiten Weltkrieg eben auch als »Fünfte Kolonne« des damals sogenannten Irredentismus an der Destabilisierung derselben mitgewirkt hatten. Was in den Augen der Tschechen oder Polen einen Hauptgrund ihrer Entfernung aus ihren Staatsgebieten ausmachte. Die deutsche Politik der 1920er und 1930er Jahre, heißt es im Konzept, »benutzte (…) die Minderheitenfrage im Osten, um die Beschlüsse von Versailles anzufechten und eine Revision der Ostgrenzen zu erreichen«. Zudem wird - anders als 2006 - die faschistische Henlein-Partei im Westen der Tschechoslowakei erwähnt, die »spätestens seit 1937 einen Anschluss an das Deutsche Reich« angestrebt habe und in den Jahren vor dem Krieg die Szenerie beherrschte. 50 Jahre nach Martin Broszats großer Geschichte der »Polenpolitik« und 35 Jahre nach Reinhard Opitz' monumentaler diesbezüglicher Quellenedition bekommt damit die BdV-Geschichtsverweigerung einen ersten Riss. Zumindest auf dem Papier.

Wie weit dieser Realitätscheck den Duktus der Dauerschau tatsächlich mitprägen und einen »multiperspektivischen« Zugang zum Konfliktbogen der sogenannten Nationalitätenkämpfe zwischen dem späteren 19. und der Mitte des 20. Jahrhunderts zulassen oder doch nur ein »Steinbach light« produzieren wird, steht dennoch in den Sternen. An anderer Stelle ist wässrig von einem »vielfach konfliktreichen Verhältnis der neuen Nationalstaaten zu ihren Minderheiten nach 1918« die Rede. Zudem soll die Schau sich wie gehabt hauptsächlich auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg konzentrieren. Ob sie den Schulklassen, die als Zielgruppe genannt werden, die komplexen Zusammenhänge zwischen Irredentismus und Nationalitätenkampf vermitteln kann oder ob es bei der alten Litanei bleibt, hängt von der konkreten Ausgestaltung ab.

Blinde Flecken

Das »Fallbeispiel« Polens im Exposé dämpft den Optimismus: So wird die Beute aus den polnischen Teilungen umstandslos als »preußische Provinz« bezeichnet - und weiterhin ausgeblendet, dass gerade die Politik der ethnischen »Verdrängung«, wie sie Polen im Konzept für die Zwischenkriegszeit vorgehalten wird, eins zu eins die Muster der bereits unter Bismarck einsetzenden Germanisierungspolitik in den östlichen Provinzen wiederholte. Kein Wort von der königlich preußischen »Ansiedlungskommission«, die polnisch dominierte Städte planmäßig mit deutschen Bauern umzingelte, kein Wort von den Sprachverboten, den Schulstreiks und von der bizarren Steuerpolitik, nach der Preußen auf Millioneneinnahmen verzichtete, nur damit das aufstrebende polnische Bürgertum im Mehrklassenwahlrecht nicht dem ihm zustehenden Einfluss gewönne. Dabei liegen die Schriften und der Nachlass des liberalen Staatswissenschaftlers Ludwig Bernhard, der dies schon vor dem Ersten Weltkrieg geißelte, unter den Linden zur Einsicht bereit.

Diese Leerstelle hat ihren Grund in der theoretischen Fundierung. Das Konzept zeigt sich krampfhaft bemüht, als Urgrund des Umsiedlungs-, Genozid- und Vertreibungsgeschehen des 20. Jahrhunderts die »Idee« eines ethnisch homogenisierenden Nationalismus auszumachen, die sich erst nach dem Zerfall der »Vielvölkerimperien« im Ersten Weltkrieg Bahn gebrochen habe. Dabei geht nicht nur viel Trennschärfe zwischen dem bürgerlich-demokratischen »Selbstbestimmungsrecht der Völker« nach Lesart des damaligen US-Präsidenten Woodrow Wilson einerseits und dem antidemokratischen, mit anti-slawischen Überlegenheitstopoi und mit kontinental-kolonialistischen Fantasien aufgeladenen völkischen Denken andererseits verloren, das besonders von der deutschen Diaspora aus wirkte.

Bereits dieser Versuch, die komplexe Konfliktgeschichte der Nationalitätenkämpfe über eine einzige »Idee« zu brechen, verurteilt die Schau darüber hinaus zu einer »großen Erzählung«, die im Detail blind sein kann. Die Nachkriegs-CSSR zum Beispiel hat eben nicht nur mit einer ethno-nationalen Brille ausgesiedelt und vertrieben. Viele der am Ende wenigen, die sich gegen die Henlein-Horden gestellt hatten, sind geblieben - und teils Tschechen geworden. Zu schlechter Letzt wird auch in diesem Konzept, das doch die widerstreitenden Geschichtsnarrative in Deutschland und Ostmitteleuropa versöhnen will, deutscherseits der Hauptgrund für diese Differenzen ausgespart: die vielfachen Kontinuitäten zwischen den völkisch-antidemokratischen »Nationalitätenkämpfern« der Zwischenkriegszeit und dem NS-Mordapparat sowie dem BdV, der bis heute mit seinen Staatsmillionen massiv in die deutsche Osteuropa-Geschichtsschreibung hineinregiert. Dabei wollte nur ein Bruchteil der tatsächlich Vertriebenen und Ausgesiedelten mit den Rechtsauslegern des BdV je etwas zu tun haben.

Und gerade, wer über die »Tabuisierung« der Vertriebenen in der DDR spricht, darf nicht vergessen, dass sich in der Bundesrepublik die zunächst auch von den Westalliierten beargwöhnten »Vertriebenen-Strukturen« vielfach als manifeste Sammelbecken völkischer Schwärmer, aber auch harter Nazis entpuppten. Als »Fallbeispiel« böte sich hier eine kritische Würdigung des Max Hildebert Böhm an, der zwischen den Kriegen in seinen Hauptwerken »Europa Irredenta« und »Das eigenständige Volk« die Taktiken der »Fünften Kolonne« systematisch entwickelte, um nach dem Zweiten Weltkrieg vom Staat das Privatinstitut »Ost-Akademie« in Lüneburg finanziert zu bekommen.

Dennoch bleibt als Fazit, dass das vorliegende Konzept in seiner ansatzweisen Differenzierung eine Chance böte, die komplexbeladene Geschichte, in einer halbwegs akzeptablen Weise zu erzählen.

* Aus: neues deutschland, Montag, 03. September 2012


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