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Schutzschirm für Flüchtlingsrechte

Amnesty: Forderungskatalog an Schwarz-Gelb

Von Aert van Riel *

Noch bevor die neue Bundesregierung ihre Arbeit aufnimmt, formulierten »Pro Asyl« und »Amnesty International« am Mittwoch in Berlin ihre Forderungen für eine künftige Flüchtlingspolitik. Grundtenor: Mehr Humanität.

»Ein Neuanfang in der Flüchtlingspolitik ist notwendig. Wir wollen, dass ein Schutzschirm für Flüchtlingsrechte in den Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung aufgenommen wird«, fordert Günter Burkhardt, Geschäftsführer der Flüchtlingsinitiative »Pro Asyl«, gemeinsam mit Wolfgang Grenz, Abteilungsleiter von »Amnesty International«, am Mittwoch (30. Sept.) bei einer Pressekonferenz in Berlin.

Die Situation vieler Flüchtlinge in der Bundesrepublik ist katastrophal. »Etwa 80 000 von ihnen leben in Lagern. Diese Abschottung ist menschenunwürdig und muss beendet werden«, so der Geschäftsführer von »Pro Asyl«. Circa 100 000 Flüchtlinge werden hierzulande geduldet. Eine Duldung bedeutet, dass die Abschiebung, meist wegen unsicherer Lage in den Heimatländern, vorerst ausgesetzt wird. Duldungen gelten nur für kurze Zeit und müssen regelmäßig verlängert werden. Die Betroffenen leben in ständiger Angst vor der drohenden Abschiebung. Bisher haben 28 000 seit Jahren in Deutschland lebende Flüchtlinge, durch die sogenannte Altfallregelung aus dem Jahr 2007, ein »Bleiberecht auf Probe« erhalten. Wenn sie bis Jahresende ihren Lebensunterhalt nicht selbstständig bestreiten können, droht ihnen der Rückfall in die »Kettenduldung«. Die Initiativen verlangen die Abschaffung der »Kettenduldung« und ein Aufenthaltsrecht für alle Flüchtlinge, die sich seit Jahren in Deutschland aufhalten.

Nicht nur in Deutschland ist die Lage der Flüchtlinge prekär. Immer weniger Verfolgten gelingt es, EU-Gebiet zu erreichen. Wolfgang Grenz moniert widerrechtliche Maßnahmen gegen Flüchtlinge, vor allem auf dem Mittelmeer. Dort werden Migranten in nordafrikanische Staaten zurückgeschickt, auch wenn sie Hoheitsgewässer eines EU-Staates erreichen, in denen sie das Recht auf einen Asylantrag haben. »Das Meer ist kein rechtsfreier Raum. Die gängige Praxis der Zurückschiebungen ist menschenrechtswidrig«, erklärt Grenz. Die nordafrikanischen Staaten wären zudem keine sicheren Drittstaaten. »Verlässliche Quellen belegen, dass Flüchtlinge in Libyen misshandelt und in der Wüste ausgesetzt werden«, berichtet Grenz.

Für den Grenzschutz der EU ist die Agentur »Frontex« zuständig. Die Agentur solle entweder abgeschafft oder den politischen Organen der EU direkt unterstellt werden, so die Vertreter der Initiativen. Deutschland müsse sich zudem gemeinsam mit allen EU-Staaten bereiterklären, mehr Bürgerkriegsflüchtlinge als bisher aufzunehmen. »Es ist zu begrüßen, dass die Bundesregierung 2500 Flüchtlinge aus Irak aufnimmt. Dies kann aber nur ein Anfang sein«, so Burkhardt.

Die Flüchtlingsorganisationen hoffen auf Umsetzung ihrer Anliegen durch die neue Bundesregierung. Auf den bisherigen Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) werden sie dabei sicherlich nicht zählen können. Schäuble hatte sich in den vergangenen Jahren mit den Staaten der Afrikanischen Union (AU) über eine afrikanisch-europäische Kooperation gegen »ungewollte Zuwanderung« aus dem Raum der Sub-Sahara verständigt. Bei der FDP jedoch glauben die Aktivisten, einen Hoffnungsschimmer erkannt zu haben. »Die Liberalen sind eine Bürgerrechtspartei und in ihrem Programm gibt es Ansätze für eine humanere Flüchtlingspolitik«, setzt Burkhardt seine Hoffnung auf den kleinen Koalitionspartner der Union.

* Aus: Neues Deutschland, 1. Oktober 2009

FLÜCHTLINGSRECHTE IN DEN KOALITIONSVERTRAG!

Presseerklärung, 30.09.2009

PRO ASYL und AMNESTY INTERNATIONAL fordern eine neue Bleiberechtsregelung und das Ende der menschenrechtswidrigen Rückschiebungen an den Grenzen Europas

BERLIN, 30.09.2009 – Die schwarz-gelbe Koalition muss den Flüchtlingsschutz im Koalitionsvertrag verankern. Das betreffe sowohl Flüchtlinge, die in Deutschland leben, als auch die, die verzweifelt versuchten, auf europäischem Boden einen Asylantrag zu stellen, sagten Vertreter von Amnesty International und Pro Asyl heute in Berlin.

Die Organisationen forderten, die zum 31. Dezember auslaufende Bleiberechtsregelung neu zu fassen und dabei deutlich zu verbessern. „Die unmenschliche Praxis der Kettenduldungen ist immer noch nicht abgeschafft. Wer lange hier lebt, muss bleiben dürfen“, sagte Günter Burkhardt, Geschäftsführer von Pro Asyl. Die eng gefassten Ausschlussgründe hätten von vornherein viele Flüchtlinge von der Bleiberechtsregelung ausgeschlossen. Die einmaligen Stichtage für die Einreise führten dazu, dass immer wieder neue Fälle von langjährig Geduldeten entstehen. “Abschiebungen nach jahrelangem Aufenthalt sind unmenschlich. Die Stichtagsregelung muss aufgehoben, das Bleiberecht von der Lebensunterhaltssicherung entkoppelt werden“, forderte Burkhardt. Die Isolierung in Lagern und die entmündigende Zwangsversorgung mit Essenspaketen müsse beendet werden.

Mit Blick auf die Flüchtlingspolitik der EU fordern Pro Asyl und Amnesty die neue Bundesregierung, auf, Deutschlands ganzes politisches Gewicht dafür einzusetzen, damit Flüchtlinge nicht länger auf Hoher See im Mittelmeer abgefangen und ohne rechtsstaatliche Überprüfung ihrer Fluchtgründe in Transitstaaten zurückgeschickt werden. „Das ist völkerrechtswidrig“, erklärte Wolfgang Grenz, Leiter der Abteilung Länder und Asyl von Amnesty International. „Es gibt keinen menschenrechtsfreien Raum im Mittelmeer. Auch Menschen, die auf Hoher See aufgegriffen werden, haben Anspruch auf ein faires Asylverfahren.“ Libyen und andere nordafrikanische Staaten erfüllten diese Voraussetzungen nicht. Die Agentur Frontex braucht nach Auffassung der Organisationen dringend menschenrechtskonforme Leitlinien.

Weiter forderten Amnesty und Pro Asyl, Deutschland dürfe sich nicht länger dagegen sperren, die Verantwortung für die Flüchtlinge solidarischer innerhalb Europas zu verteilen. „Deutschland muss mehr Flüchtlinge aufnehmen als bisher, statt die Verantwortung auf die Randstaaten abzuwälzen“, sagte Burkhardt. „Griechenland, Malta und Zypern sind in der Tat mit der Flüchtlingsaufnahme überlastet. In Griechenland gebe es kein menschenrechtlichen Standards genügendes Asylverfahren, was auch die Eilentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 8.09.2009 nahe lege. „Abschiebungen nach Griechenland müssen daher sofort ausgesetzt werden“, forderte Burkhardt.

Zur solidarischeren Verteilung der Aufgaben im Flüchtlingsschutz gehört nach Ansicht von Pro Asyl und Amnesty International auch, einem Programm für die regelmäßige Neuansiedlung (Resettlement) von Flüchtlingen zuzustimmen, die in anderen Ländern bereits als Flüchtlinge anerkannt sind, dort aber auf Dauer nicht bleiben könnten. Die EU-Kommission hat hier entsprechende Vorschläge gemacht. „Die Aufnahme irakischer Flüchtlinge aus Jordanien und Syrien zeigt, dass ein solches Programm umsetzbar ist“, sagte Grenz. „Die 2.500 Iraker können nur ein Anfang sein. Wir müssen jährlich Flüchtlinge bei uns neu ansiedeln. Und damit kein Missverständnis entsteht: Es soll die individuelle Aufnahme von Flüchtlingen ergänzen, nicht ersetzen“, sagte Grenz.

Staaten wie Australien, Dänemark, Finnland, Kanada, Neuseeland, die Niederlande, Norwegen, Schweden und die USA siedeln schon seit langem regelmäßig Flüchtlinge bei sich neu an. Schweden, ein Land von neun Millionen Einwohnern, nimmt jährlich bis zu 1.800 Flüchtlinge dauerhaft auf.

Quelle: Website von pro asyl; www.proasyl.de



Warum will Europa keine Roma?

Cornelia Ernst zur Situation von Minderheiten in der EU **

Cornelia Ernst, Europaabgeordnete der LINKEN, gehört zu den Initiatoren einer Anhörung zur Minderheitenpolitik in Europa

ND: Sie haben in einer Pressemitteilung davon gesprochen, dass etwa 10 000 Roma die Abschiebung aus Deutschland droht.

Ernst: Es sind Roma innerhalb von zwölf Jahren vorwiegend aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Deutschland gekommen. Nun droht 10 000 Roma die Abschiebung nach Kosovo. Die Abschiebung nach Kosovo ist nicht hinnehmbar, da ihnen dort Armut und Diskriminierung drohen.

In welchen deutschen Bundesländern leben die Menschen im Moment?

Viele Roma leben vor allem in Hessen, Niedersachen, Nordrhein-Westfalen und Berlin. Aufgrund der geplanten Abschiebungen vor allem aus Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen kam es in einigen Städten sogar zu Aktionen gegen die Abschiebungen.

Wissen Sie, wie diese Menschen leben?

Diese Menschen leben hier in Deutschland meist unter dem Status der Duldung. Das heißt, dass sie über kein Bleiberecht verfügen und immer mit der drohenden Abschiebung rechnen müssen. Viele von ihnen sind gut integriert, sie sprechen die deutsche Sprache, und viele ihrer Kinder wissen mit Kosovo nichts anzufangen.

Warum möchten Deutschland und Europa diese Menschen loswerden und warum lässt sich Kosovo auf diese Rückführung ein?

Es gibt ein Abkommen zwischen dem deutschen Innenministerium und Kosovo, das vorsieht, sobald sich die Lage in Kosovo verbessert hat, auch sogenannte Rückführungen durchzuführen. Eine solche Verbesserung hat es in Kosovo vor allem für Minderheiten nicht gegeben. Hier handelt die Bundesrepublik nach dem Motto: Wir suchen die Greencard-Gastarbeiter aus, die möglichst nichts kosten sollen, und schieben aber von Not betroffene Menschen einfach ab.

Wie läuft eine Rückführung genau ab?

Die Betreffenden werden angeschrieben und erhalten dann eine Fristsetzung, bis wann sie das Land zu verlassen haben. Dafür gibt es sogar Gelder, die bereitgehalten werden. Das läuft meist über Flüge. Unter Umständen auch mit Polizeigewalt. Das ist nichts Neues. Das Besondere ist, dass es sich um eine Minderheit handelt, die besonders von Vorurteilen betroffen ist.

Am 2. Oktober findet eine Anhörung zur Situation der Sinti und Roma in Köln statt, die von der Delegation der LINKEN im Europaparlament initiiert wurde. Was werden Sie dort vorbringen?

Es gibt eine Initiative von acht Ländern Mittel- und Südosteuropas, die sogenannte Roma-Dekade 2005 bis 2015, in der bestimmte Maßnahmen und Schritte geplant sind, die in den Ländern durchgeführt werden müssen, um die Lebenssituation der Roma zu verbessern. Wir möchten aber auch notwendige Schritte auf europäischer Ebene diskutieren, und auch die deutsche Bleiberechtskampagne.

Es gibt ein europaweites »Programm zur Neuansiedlung«. Worum geht es dabei genau?

Das Programm der Neuansiedlung ist ein Vorschlag der Europäischen Kommission, um Flüchtlinge in Europa so ansiedeln zu können, dass alle europäischen Staaten in die Verantwortung genommen werden können. Das heißt, die Flüchtlinge müssen nicht in dem sogenannten ersten sicheren Ankunftsland bleiben – oft ist das ja Italien, Spanien oder Griechenland – sondern können auch in anderen Ländern Asyl beantragen. Wichtig ist, dass die Asylsuchenden eine tatsächliche Unterstützung erhalten.

Fragen: Antje Stiebitz

* Aus: Neues Deutschland, 1. Oktober 2009


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