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Bootsflüchtlinge, getäuscht, verraten

Prozess in Strassburg

Von Kaspar Surber und Anja Suter, Strassburg *

Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wurde letzte Woche die europäische Migrationspolitik verhandelt: 24 Flüchtlinge aus Somalia und Eritrea klagen gegen Italien. Ein Prozessprotokoll.

Mittwoch, 22. Juni: Der Gerichtssaal ist bis auf den letzten Platz besetzt, weitere ZuschauerInnen müssen abgewiesen werden. Pünktlich um 9.15 Uhr läutet eine Glocke, das Publikum erhebt sich. Ein Gerichtsdiener betritt das Halbrund und verkündet: «La cour!» Durch eine Schwingtüre schreiten 21 RichterInnen in dunkelblauen Roben, auf ihren Schärpen blitzen zwölf goldene Sterne.

50 000 Beschwerden gehen jährlich am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg ein. Einzelpersonen können hier gegen Staaten klagen, die die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) unterzeichnet haben. Verbot von Todesstrafe, Folter und Sklaverei, das Recht auf Gedanken-, Gewissens- oder Religionsfreiheit: Die EMRK wurde 1950 nach der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs verfasst. Sie soll die Grundfreiheiten und Menschenrechte garantieren, als Grundlage für eine «wahrhaft demokratische Ordnung».

Die grosse Kammer des Gerichtshofs versammelt sich nur bei «schwerwiegenden Fragen». Im heute behandelten Fall «Hirsi et autres contre Italie» geht es um solche.

Es klagen an, die Flüchtlinge: Sadik Hirsi Jamaa, Muhammad Scheich Ali, Moh’b Ali Hassan, Omar Ahmed Scheich, Elyas Awes Ali, Muhammad Abdi Kadiye, Qadar Abfillzhi Hasan, Abduqadir Ismail Siyad, Abdigani Abdillahi Ali, Muhammad Abukar Muhammad, Hasan Schariff Abbirahman (alle aus Somalia). Samsom Mlash Tesray, Waldu Habtemchael, Biniam Zeweidi, Aman Tsyehansi Gebray, Mifta Nasrb, Said Salih, Estifanos Admasu, Habtom Tsegay, Ermias Berhane, Roberl Abzighi Yohannes, Telahun Keri, Hayelom Mogos Kidane, Kiflom Tesfazion Kidan (alle aus Eritrea).

Angeklagt ist der italienische Staat.

«Ein ideologisches Manifest»

Die 24 Kläger gehörten zu einer Gruppe von 227 Flüchtlingen, die am 6. Mai 2009 von der italienischen Grenzpolizei Guardia di Finanza aufgegriffen wurden. Die Flüchtlinge waren in drei Booten von Libyen unterwegs und noch 35 Kilometer vom italienischen Lampedusa entfernt. Unter ihnen waren auch Frauen und Kinder.

An jenem Tag waren zufällig zwei Journalisten der Illustrierten «Paris Match» auf einem Schiff der Grenzpolizei (vgl. in der Printausgabe «Zu den Fotos»). Sie haben festgehalten, was genau passierte: Die Flüchtlinge kletterten einer nach dem anderen von ihrem Boot aufs Schiff der Grenzpolizei. Sie waren durstig und durchnässt, benötigten Wasser und Medikamente. Sie konnten nicht mehr einschätzen, wie lange sie auf dem Meer unterwegs waren. Nun wähnten sie sich in Sicherheit.

Plötzlich änderte die Guardia di Finanza den Kurs. Nach stundenlanger Fahrt durch die Nacht hielten die Flüchtlinge einen Gottesdienst ab, beteten als gläubige Christen, dass alles gut komme. Doch die Unruhe stieg. Als tatsächlich Tripolis am Horizont auftauchte, wurde es still auf dem Schiff. Die Flüchtlinge wurden von der Grenzpolizei direkt an die libyschen Behörden übergeben. Vor Verzweiflung zogen sich Einzelne nackt aus und drohten mit Selbstmord. Mit Knüppeln wurden sie in einen Lastwagen getrieben.

Im Gerichtssaal in Strassburg erteilt der vorsitzende Richter zuerst den Vertreter­Innen von Italien das Wort.

Silvia Coppari, Verteidigerin Italiens: «Die vorgebrachten Beschwerden sind absurd und tendenziös. Es handelt sich weniger um eine seriöse Klage als um ein ideologisches Manifest gegen die italienische Regierung und ihre Politik. Italien hat sich gemäss den Richtlinien der EU zur Abwehr der illegalen Migration verhalten. Es müssten sich, wenn schon, alle Staaten hier rechtfertigen. (...) Die Beschwerde ist als nicht zulässig zu erklären, weil keine Sicherheit über die Identität der Kläger und somit für eine individuelle Beschwerde besteht. Die Kläger waren zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens anwesend. Wir bezweifeln, dass die Vollmachten der Anwälte echt sind. (...) Es handelte sich bei den Ereignissen vom 6. Mai um eine Rettungsaktion. Von einer Kollektivausweisung kann nicht die Rede sein: Eine Ausweisung kann nur stattfinden, wenn sich die Betroffenen in einem Staat befinden. Das Umsteigen auf ein Schiff kann nicht mit dem Betreten eines Staatsterritoriums verglichen werden. Die Flüchtlinge haben kein Asylgesuch gestellt. Und falls sie keines stellen konnten, so hätten sie Rekurs einlegen können: Sie besassen ja Mobiltelefone.»

Im Fall «Hirsi et autres» soll Italien gemäss der Beschwerde in drei Punkten gegen die EMRK verstossen haben: Die Flüchtlinge seien als Gruppe zurückgeschafft worden, ohne dass sie vorher individuell angehört wurden. Ausserdem soll ihnen das Recht auf einen Rekurs gegen den Entscheid ihrer Ausschaffung verwehrt worden sein. Vor allem aber wird Italien der Verstoss gegen einen der wichtigsten Artikel der Konvention vorgeworfen: In Artikel 3 ist festgelegt, dass kein Mensch der Folter oder unmenschlicher Behandlung unterworfen werden darf. Daraus ist das Non-Refoulement-Prinzip abgeleitet, wonach niemand in ein Land zurückgeschafft werden darf, in dem ihm Folter droht.

Es spricht Giuseppe Albenzio, der zweite Verteidiger Italiens: «Die EU kann nicht alle Migranten aufnehmen. Der europäische Pakt über Migration und Asyl sieht eine Begrenzung der Einwanderung und den Ausbau der Kontrolle der Aussengrenze vor. Um dies durchzusetzen, sind die europäischen Staaten auf internationale Abkommen angewiesen. Deshalb hat die EU die Grenzschutzagentur Frontex geschaffen, und aus demselben Grund hatte Italien mit Libyen ein Abkommen geschlossen: für den gemeinsamen Kampf gegen Terrorismus, Drogenhandel und illegale Migration (...) Das Abkommen stand im Einklang mit den Menschenrechten, überhaupt galt Libyen damals als sichere Des­tination, in dem das Uno-­Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) und die Internatio­nale Migrationsorganisation (IOM) Büros unterhielten.»

«Ein bedingungsloses Ja»

Italien hatte das «Freundschaftsabkommen» mit Libyen Ende 2007 abgeschlossen und es sich fünf Milliarden Dollar kosten lassen. Bei den Ereignissen vom 6. Mai 2009 handelte es sich um die erste sogenannte «Push-back-Operation» nach dem neuen Abkommen. Nach Zahlen des UNHCR wurden 2009 ins­gesamt 1200 Personen von Italien auf diese Art nach Libyen zurückgeschafft.

Das Wort hat Anton Giulio Lana, Anwalt der Flüchtlinge: «Wir sind heute nicht hier, um diese Operation abstrakt zu diskutieren. Es sind die Flüchtlinge, die wir ins Zentrum der Anhörung stellen möchten, die humanitäre Tragödie, die sie durchleben mussten. Wir sind hier, um über ihr Schicksal zu diskutieren, vielleicht über ihr Leben, vielleicht über ihren Tod. (...) Die Bezeichnung der Operation als Rettungsaktion entbehrt jeder gängigen Auffassung von Rettung und Schutz: Jeder Staat ist dazu verpflichtet, das Non-Refoulement-Prinzip zu beachten, ob er nun Leben rettet oder nicht. Stattdessen wurden die Flüchtlinge getäuscht – sie waren überzeugt, nach Lampedusa gebracht zu werden. In Libyen wurden sie mit Gewalt gezwungen, das Schiff zu verlassen. Die Mobiltelefone wurden ihnen abgenommen. (...) Ich habe letzte Woche Ermias Berhane, einen der Kläger, getroffen. Er konnte während der Nato-Bombardements einmal mehr aus Libyen flüchten und hat es diesmal bis nach Italien geschafft. Er hat mir von seinem Aufenthalt im sogenannt sicheren Libyen erzählt: wie er in ein Lager für illegale Migranten geschafft wurde, wo er über ein Jahr gefoltert und misshandelt wurde, bis er beinahe starb. Die libyschen Behörden liessen ihn bloss frei, weil sie seinen toten Körper nicht brauchen konnten.»

Nach der «Push-back-Operation» gelang es Men­schenrechtsorganisationen, ein­zelne Flüchtlinge in libyschen Gefangenenlagern zu besuchen und ihre Aussagen aufzunehmen. Die Kläger leben heute in verschiedenen Ländern zerstreut, eine Einreisebewilligung für den Prozess wurde ihnen verwehrt. Die Klage führt eine renommierte Menschenrechtskanzlei aus Rom, sie arbeitet ehrenamtlich.

Das macht den Fall «Hirsi et autres» speziell: Flüchtlinge, die in Europa nicht um Asyl fragen konnten, strengen einen Prozess an, zu dem sie nicht eingeladen wurden, und trotzdem stellen sie hier das Recht Europas infrage – abwesend und anwesend zugleich.

Es spricht Andrea Saccucci, der zweite Anwalt der Flüchtlinge: «Das Gericht muss über die folgenden beiden Fragen urteilen: Bestand erstens das Risiko, dass die Klagenden in Libyen Misshandlung oder Folter ausgesetzt würden? Bestand zweitens das Risiko, dass sie davon in ihren Herkunftsländern bedroht waren? Die Antwort vieler Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, die die Zustände in Libyen kennen, ist ein absolutes und bedingungsloses Ja. (...) Wie wir aus den Berichten wie jenem von Ermias Berhane wissen, waren die Kläger nicht nur von Misshandlung bedroht, sondern haben später tatsächlich solche erlebt. (...) Die Klagenden wurden nicht darüber informiert, dass sie auf dem Boot ein Asylgesuch stellen sollten. Die Argumentation der Regierung, sie hätten kein Gesuch gestellt, ist deshalb als hämisch zurückzuweisen. Hinzu kommt, dass es keine rechtlichen Regeln für Asylgesuche gibt, die auf Schiffen eingereicht werden. Indem die italienische Regierung die Grenzkontrolle vom Territorium in Richtung Meer verschob, schuf sie einen rechtsfreien Raum. Dieses Gericht soll die Vertragsstaaten daran hindern, solche Guantánamos auf hoher See zu errichten.»

«Von besonderem Interesse»

Als Drittpartei ist auch das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge zum Prozess eingeladen. Es kann Partei für den Kläger oder den Staat ergreifen.

Madeleine Garlick, die Leiterin der Rechts­abteilung des UNHCR, erhält das Schlusswort: «Der vorliegende Fall ist für das UNHCR von besonderem Interesse. Er behandelt die Frage, was für Rechte Flüchtlinge haben, die auf See aufgegriffen werden. Dieser Fall erinnert uns an das humanitäre Drama, das sich weiterhin im Mittelmeer und in anderen Gewässern der Welt, etwa dem Golf von Aden, abspielt. (...) Was die Möglichkeit eines Asylgesuchs oder einer Beschwerde betrifft: Erstens sind Flüchtlinge, die auf See gerettet werden, körperlich und psychisch geschwächt. Zweitens wurden sie in diesem Fall von den Behörden über das Reiseziel getäuscht und dachten, ein Asylgesuch nach der Ankunft in Italien stellen zu können. Drittens haben die italienischen Behörden von den Flüchtlingen Papiere des UNHCR konfisziert, die ihren Flüchtlingsstatus bescheinigten. (...) In Libyen kam es schon damals zu Menschenrechtsverletzungen, es gab kein funktionierendes Asylwesen. Die libyschen Behörden schickten eritreische Flüchtlinge in ihren Herkunftsstaat zurück, wo sie ebenfalls Misshandlungen ausgesetzt waren. Wenn dies einem Staat nicht bekannt war, so konnte er es in Erfahrung bringen. (...) In diesem Fall besteht ein klarer Verstoss gegen die Pflicht, Menschen vor ‹Refoulement› zu schützen. Jeder Staat hat die Verantwortung, diesen Schutz allen Menschen zu gewäh­ren – sowohl innerhalb des staatlichen Territoriums als auch in Gebieten ausserhalb, in denen er die alleinige Kontrolle über eine Person ausübt.»

«Ich hoffe auf einen Erfolg»

Um elf Uhr ist der Prozess zu Ende. Die RichterInnen ziehen sich zur Beratung zurück. Ein Landsmann gratuliert den italienischen VerteidigerInnen. Anwalt Lana und sein jüngerer Kollege wirken erleichtert. Rechnen Sie damit, den Prozess zu gewinnen? «Ich hoffe es», sagt Lana. «Ich bin seit zwanzig Jahren in diesem Gebäude hier tätig. Man muss dem Recht immer wieder zum Durchbruch verhelfen.» Was würde ein Erfolg bedeuten? «Das Ziel ist, dass die Kläger als Asylsuchende anerkannt werden. Und letztlich, dass nie mehr derartige Push-back-Operationen vorkommen.»

Darin liegt die Aktualität des Falles «Hirsi et autres», unabhängig vom veränderten Umgang Europas mit Libyens Regime, von Bomben statt Geld: dass die Flüchtlinge auf hoher See keinem «Refoulement» ausgesetzt sind. Dass sie ein Asylgesuch stellen können und grundsätzlich nach Europa gebracht statt zurückgedrängt werden.

Anwalt Saccucci erzählt von den Schwierigkeiten, mit den Klägern in den Kriegswirren Kontakt zu halten: Im Moment hat man ihn nur gerade zu drei Personen. Zwei der Kläger sind beim erneuten Versuch, übers Mittelmeer zu gelangen, gestorben: Said Salih aus Eritrea im November 2009 und Hasan Schariff Abbirahman aus Somalia im März 2011.

Das Urteil wird in einem halben Jahr erwartet.

* Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 30. Juni 2011


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