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Flüchtlingscamp geräumt

Stadt München und bayerische Staatsregierung bleiben hart gegen Hungerstreikende

Von Johannes Hartl *

Am frühen Sonntagmorgen betrat die Polizei das Camp, um den Hunger- und Durststreik von 55 Geflüchteten aus verschiedenen Staaten zu beenden. Vermittlungen waren zuvor an der harten Linie der Politik gescheitert.

Über eine Woche lang protestierten 55 Flüchtlinge in der Münchner Innenstadt mit einem Durst- und Hungerstreik für ihre Anerkennung als politische Verfolgte nach Artikel 16a des Grundgesetzes. Mit ihrem Protest führten sie der Öffentlichkeit die Verzweiflung über die menschenunwürdige Asylpolitik im Freistaat eindringlich vor Augen.

Am Samstag vor einer Woche hat alles angefangen. Im Anschluss an eine Non-Citizen-Demonstration ließen sich 100 Flüchtlinge am Münchner Rindermarkt nieder. Dort, wo ursprünglich der Protestmarsch durch die Münchner Innenstadt enden sollte, schlugen die Flüchtlinge ihr Camp auf und traten in den Hungerstreik. Zunächst setzten sie ein Ultimatum von drei Tagen – bis zum Montag hätte sich die Regierung mit den Schicksalen der rund 55 Hungerstreikenden befassen und ihr Grundrecht auf Asyl anerkennen sollen. Zudem wurden die Residenzpflicht, das Arbeitsverbot und die Versorgung mit Essenspakten kritisiert. Die Forderungen waren klar benannt, doch eine Reaktion blieb aus.

Deshalb sind die Asylsuchenden am Münchner Rindermarkt – wie zuvor angekündigt – auch in einen Durststreik getreten. Um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen und um auf ihre verzweifelte Situation aufmerksam zu machen, waren sie bereit, ihr eigenes Leben zu riskieren. Es war ein beispielloser Akt der Verzweiflung, zu dem die Flüchtlinge in ihrer Not gegriffen haben. Während sowohl das Sozial- als auch das Innenministerium jedwede Verantwortung weit von sich wiesen haben, bekundeten SPD, Grüne und LINKE ihre Solidarität.

In einer ersten Reaktion des Sozialministeriums am Dienstag sprach Ministerin Christine Haderthauer (CSU) dann von »Erpressung« und forderte einen Abbruch des Streiks. Die Politik sei nicht erpressbar, ließ Haderthauer in einer knappen Presseerklärung mitteilen. Ähnlich äußerte sich wenig später der bayerische Innenminister Joachim Herrmann. Wie seine Kabinettskollegin und Parteifreundin hielt auch er die Flüchtlinge zum Abbruch ihres Protests an. Zugleich beteuerte er bei einer Pressekonferenz, dass jeder Asylbewerber ein rechtsstaatliches Verfahren bekomme und jeder Antrag sehr genau geprüft würde. Dass seit der Dublin-II-Verordnung die meisten Asylanträge in Deutschland aber überhaupt nicht bearbeitet, sondern an die Einreisestaaten weitergeleitet werden, verschwieg der Minister.

Nachdem auch die Verhandlung mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Vertretern der Staatsregierung, der Regierung von Oberbayern und der Stadtverwaltung München ergebnislos abgebrochen worden war, spitzte sich die Situation weiter zu. Unmittelbar nach den Verhandlungen rückte der Sprecher der Gruppe, Ashkan Khorsani, in den Fokus der Öffentlichkeit. Münchens Oberbürgermeister Christian Ude (SPD) sprach von einer »Kommandostruktur« hinter Khorsanis Verhandlung und bezeichnete die Forderungen ebenfalls als »Erpressung« – und trug damit keineswegs zur Entspannung der Situation bei. Doch die Forderungen der Hunger- und Durststreikenden, so Ude, seien objektiv einfach nicht erfüllbar. In der Zwischenzeit waren immer mehr Menschen infolge des Protests kollabiert, bis zum Ende des Streiks am Sonntag mussten über 35 Menschen in der Klinik behandelt werden, bei zwei Flüchtlingen sei sogar eine Reanimation erforderlich gewesen.

Die Flüchtlinge aber hielten weiter an ihrem Protest fest und drohten sogar mit Suizid. Ärzte, die ihre Versorgung vor Ort übernommen hatten, bekamen erst nach Interventionen der Stadtverwaltung wieder Zugang. Als am Samstag die von der Staatsregierung bestimmten Vermittler, der SPD-Politiker Hans-Jochen Vogel und der CSU-Politiker Alois Glück, die Forderung nach einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis als »unerfüllbar« zurückwiesen, war weiter kein Ende in Sicht.

Aus diesem Grund setzte das Kreisverwaltungsreferat München den Protesten am Sonntagmorgen aus Angst vor einer »konkreten und unmittelbaren Gefahr für Leib und Leben« ein Ende und ließ das Camp von Einsatzkräften räumen. Wenngleich die Flüchtlinge nun in Krankenhäuer gebracht und ihr Protest beendet worden ist, so konnten sie doch in der Öffentlichkeit ein Zeichen setzen. Die Verzweiflung über die Asylpolitik im Freistaat ist mehr als deutlich geworden – wenn man sie sehen wollte. Beobachter des Camps beklagen unterdessen nach wie vor das Fehlen von konkreten Vorschlägen und Zugeständnissen.

* Aus: neues deutschland, Montag, 1. Juli 2013


München läßt räumen

Flüchtlingscamp am Rindermarkt gewaltsam von der Polizei aufgelöst. 44 Hungerstreikende auf mehrere Krankenhäuser verteilt

Von Reinhard Jellen und Claudia Wangerin **


Die Polizei hat am Sonntag morgen das Camp der hungerstreikenden Flüchtlinge in der Münchner Innenstadt gewaltsam geräumt. 44 geschwächte Asylsuchende wurden auf 12 verschiedene Krankenhäuser verteilt, 12 Unterstützer vorübergehend festgenommen – laut Krisenstab von Stadt und Staatsregierung wegen Widerstands und Beleidigung. Auch der Versammlungsleiter wurde abgeführt. Als Augenzeugin sagte die Bundestagsabgeordnete der Linkspartei, Nicole Gohlke, gegenüber junge Welt, das polizeiliche »Unterstützungskommando« (USK) sei mit »völlig unangemessener Härte« vorgegangen. Flüchtlingsaktivisten berichteten auf der Internetseite refugeetentaction.net sogar von Schlägen. Ein weiterer Augenzeuge sagte gegenüber junge Welt, die Hungerstreikenden seien zum Teil hunderte Meter über den Boden geschleift worden. Laut Polizei waren bei der Räumung des Camps am Rindermarkt ab fünf Uhr morgens knapp 350 Beamte im Einsatz, nachdem das Kreisverwaltungsreferat die Versammlung aufgelöst hatte.

Münchens Oberbürgermeister Christian Ude (SPD) und Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) begründeten die Maßnahme mit akuter Lebensgefahr für die Flüchtlinge, die seit einer Woche die Nahrungsaufnahme und seit Dienstag auch die Aufnahme von Flüssigkeit verweigert hatten. Ein Mensch habe wiederbelebt werden müssen, mehrere hätten schon im Koma gelegen, so Ude am Sonntag bei einer Pressekonferenz.

Die Hungerstreikenden aus dem Iran, Syrien, Afghanistan, Äthiopien und Sierra Leone hatten ihre sofortige Anerkennung als Asylberechtigte verlangt. Die Stadt München und die bayerische Staatsregierung hatten diese Forderung als unerfüllbar zurückgewiesen. Nur eine schnelle Bearbeitung ihrer Asylanträge innerhalb von 14 Tagen wurde nach Rücksprache mit dem zuständigen Bundesamt zugesagt.

Am Samstag abend hatten Ex-SPD-Chef Hans-Jochen Vogel und der frühere CSU-Politiker Alois Glück das Camp besucht und anschließend im Stadtmuseum ein Gespräch mit zwei Anwälten und dem Sprecher der Flüchtlinge geführt – ohne Ergebnis. Die Gruppe kritisierte anschließend, Vogel und Glück hätten gar kein Verhandlungsmandat gehabt. Bei dem »Vermittlungsversuch« sei vorausgesetzt worden, daß der Hunger- und Durststreik sofort beendet werde.

Oberbürgermeister Ude beschuldigte am Sonntag den Sprecher des Hungerstreiks, Ashkan Khorasani, den Ärzten die Behandlung von Teilnehmern verwehrt zu haben. Der Chef des Kreisverwaltungsreferats, Wilfried Blume-Beyerle, sagte nach Auskunft der Nachrichtenagentur dpa, es sei der »Willkür« Khorasanis überlassen gewesen, wer wie behandelt werden dürfe.

Unterstützer berichteten dagegen dieser Zeitung, rund 90 Prozent der Hungerstreikenden hätten in den vergangenen Tagen bereits Infusionen bekommen. Einige hätten am Sonntag im Polizeigriff gerufen, daß ihr Zustand nicht kritisch sei. Mehr als 35 Teilnehmer waren seit Beginn des Streiks kollabiert. Immer wieder wurden Flüchtlinge ins Krankenhaus gebracht. Die meisten kehrten aber wenig später zurück, um den Protest fortzusetzen.

Die Münchner Linkspartei-Stadträtin Dagmar Henn warf Ude am Sonntag »humanitäre Heuchelei« vor. »Es gab nie echte Angebote«, so Henn. Bayerns Innenminister Joachim Hermann (CSU) habe noch am Samstag betont, wie wichtig ihm die Abschreckung von Flüchtlingen sei. Die Sozialministerin des Freistaats, Christine Haderthauer (CSU) hatte zum Hungerstreik erklärt, die Politik sei »nicht erpreßbar«. Der Opposition warf sie »gezielte Desinformation« vor, weil SPD und Grüne die Asylpolitik der bayerischen Staatsregierung kritisierten. Zuständig sei aber das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.

** Aus: junge Welt, Montag, 1. Juli 2013


Staatsversagen

Von Jörg Meyer ***

Das Münchner Camp ist geräumt. Der Hunger- und Durststreik der Flüchtlinge wurde von der Staatsmacht beendet. Eine Katastrophe wurde verhindert, sagte der Münchner Oberbürgermeister Ude. Wessen Katastrophe? Die Flüchtlinge dursten und hungern sich zwar nun nicht zu Tode, an ihrer Lebenssituation ändert sich jedoch nichts. Die Residenzpflicht in Bayern bleibt, die Ausgabe von Gutscheinen statt Bargeld und die Drittstaatenregelung ebenso. Abschiebungen in Folter oder Tod drohen noch immer. Auch wenn das Mittel des Hungerstreiks unter den bundesweit protestierenden Flüchtlingen selbst nicht unumstritten ist: Sich in vollem Wissen lieber zu Tode zu hungern als noch länger unter diesen Bedingungen zu leben, zeugt von einer großen Überzeugung – und von einer großen Verzweiflung. Die hartleibige Position der bayerischen Staatsregierung konnte nicht zur Deeskalation beitragen. Der Protest der Geflüchteten, der Asylsuchenden geht weiter.

Aber wo ist der öffentliche Aufschrei? Wo sind die »Wutbürger«, wenn vor ihrer Tür Menschen ihr Leben aus Protest aufs Spiel setzen? Warum gleichen antirassistische Unterstützungsdemos zu oft linken Familientreffen – und nicht breitem gesellschaftlichem Protest? Das müssen wir uns alle fragen. Warum aber die Politik nicht willens ist, Menschen, die hierher kommen, um Armut, Krieg und Not zu entfliehen, menschenwürdig zu behandeln und unterzubringen, das müssen die Herren und Damen in den Parlamenten erklären.

*** Aus: neues deutschland, Montag, 1. Juli 2013 (Kommentar)


Partielle Betroffenheit

Gastkommentar. Münchener Flüchtlingscamp geräumt

Von Ulla Jelpke ****


In den frühen Morgenstunden des Sonntags hat die Polizei ein Camp von Flüchtlingen in der Münchener Innenstadt gewaltsam geräumt. Etwa 50 Schutzsuchende hatten vor einer Woche den Rindermarkt besetzt und einen Hungerstreik begonnen. Damit hofften sie, ihre Anerkennung als Asylsuchende durchzusetzen. Ab Dienstag verweigerten die Hungerstreikenden die Wasserzufuhr, was innerhalb weniger Tage zu ihrem Tod führen muß. Am Freitag kündigten sie zudem an, ärztliche Hilfe zu verweigern.

Die Hungerstreikenden hätten sich in unmittelbarer Lebensgefahr befunden, rechtfertigten Behördenvertreter die Räumung des Camps und die zwangsweise ärztliche Versorgung der Flüchtlinge. »Es erfüllt uns mit großer Sorge und Trauer«, erklärte der frühere SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel, der gemeinsam mit dem CSU-Politiker Alois Glück, die Flüchtlinge noch in der Nacht zum Sonntag die Flüchtlinge zur Aufgabe ihres Protestes zu bewegen versucht hatten. »Wir gehen hier bedrückt weg«, erklärte Glück nach dem gescheiterten Vermittlungsgespräch. Die sichtbare Erschütterung von Glück und Vogel angesichts der Situation der Flüchtlinge ist glaubwürdig. Doch sie ist partiell, denn sie ignoriert die Lage, die diese Menschen erst dazu brachte, ihr Leben aufs Spiel zu setzen.

In Lebensgefahr befanden sich viele Flüchtlinge bereits in ihren Heimatländern. Denn sie flohen vor Verfolgung durch Regimes, die von den westlichen Staaten mit Unterdrückungstechnik ausgerüstet wurden. Oder sie flüchteten vor den NATO-Kriegen in Afghanistan und Libyen. Wieder andere flohen vor Hunger und Not aus Ländern, in denen westliche Großkonzerne Hand in Hand mit einheimischen Potentaten Menschenrechte Profiten opfern. In Lebensgefahr befinden sich viele Flüchtlinge, die nach Ablehnung ihrer Asylanträge aus Deutschland in ihre Heimatländer deportiert werden, wo sie erneut politischer oder religiöser Verfolgung ausgesetzt sind oder wo bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen. In Lebensgefahr befinden sich die vielen Flüchtlinge, die jedes Jahr versuchen, die Grenzen der Festung Europa zu überwinden und immer riskantere Passagen über das Meer suchen, um den Patrollienbooten und -hubschraubern der EU-Grenzschutzagentur Frontex auszuweichen.

Doch solche Flüchtlingsdramen spielen sich fern der deutschen Öffentlichkeit ab. Was in München für Erschütterung der »Vermittler« aus der Politik und der Empörung der Staatsgewalt sorgt, ist das drohende Sterben von Flüchtlingen vor aller Augen. Es soll den »Habenichtsen« nicht gestattet werden, in der guten Stube der bayerischen Landeshauptstadt zu krepieren. Doch die Flüchtlinge, die in München, Berlin und Hamburg mit Camps und Hungerstreiks für ihr Bleiberecht eintreten, haben die tödlichen Folgen der deutschen und EU-Flüchtlingspolitik vor Augen. Daraus speist sich die Radikalität und Entschlossenheit ihres Kampfes. Sie verdienen in jeder Hinsicht unsere Solidarität.

**** Ulla Jelpke ist innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Deutschen Bundestag

Aus: junge Welt, Montag, 1. Juli 2013 (Gastkommentar)



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