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Weitere Katastrophe auf dem Mittelmeer

Bei der Flucht von Afrika nach Europa erstickten 25 Menschen im Motorenraum eines Bootes

Von Anna Maldini, Rom *

Vor der italienischen Insel Lampedusa kam es erneut zu einem Flüchtlingsdrama: Im Maschinenraum eines übervollen Bootes aus Nordafrika sind 25 Migranten erstickt.

Die Mole von Lampedusa hat viel Leid erlebt. Aber das Bild, das sich Monatg am frühen Morgen bot, übertrifft wahrscheinlich alles, was sich in den letzten Jahren dort abgespielt hat. Auf dem Betonboden lagen grüne Plastiksäcke aufgereiht, in jedem konnte man die Umrisse eines Menschen erahnen. Die Beamten der Küstenwache und der örtlichen Feuerwehr, die die Toten einen nach dem anderen aus einem Boot zogen, waren still und gingen mit ihrer Last besonders vorsichtig um. Die Reihe der grünen Plastiksäcke wurde immer länger, schließlich lagen 25 tote Menschen am Kai des Hafens.

Nur wenige Minuten zuvor hatte es ein paar Meter weiter ein anderes Schauspiel gegeben. Nach und nach halfen die Beamten der Küstenwache insgesamt 271 Personen aufs Festland. Diese Menschen, darunter 36 Frauen und 21 Kinder, waren dehydriert, verfroren und verängstigt. Über drei Tage hatten sie auf einer Nussschale verbracht. »Ihr Boot war etwa 15 Meter lang. 300 Menschen auf einem so kleinen Boot, das ist eine Extremsituation«, sagt Vittorio Alessandro, Kommandant der Küstenwache von Lampedusa. Er ist sichtlich verstört, denn die verzweifelten Menschen und die Toten machen auch ihm zu schaffen.

Es ist nicht einfach, die Tragödie zu rekonstruieren, die sich jetzt auf dem Mittelmeer zwischen Nordafrika und der kleinen italienischen Insel abgespielt hat. Dolmetscher versuchen, mit den Überlebenden zu reden, während sie auf Trinkwasser und medizinische Versorgung warten. Einige reden ununterbrochen, anderen hat es im wahrsten Sinne des Wortes die Sprache verschlagen, wieder andere starren nur ins Leere. Aktiv sind nur die Frauen, die sich um ihre Kinder kümmern.

Aus den unzusammenhängenden Erzählungen ergibt sich ein vorläufiges Bild. Das kleine hellblau gestrichene Boot lag vor drei oder vier Tagen irgendwo in einem nordafrikanischen Hafen. Zuerst gingen 24 junge Männer und eine Frau an Bord. Um jeden Zentimeter auszunutzen, kletterten sie durch eine kleine Luke, die nur 50 mal 50 Zentimeter groß ist, in den Motorenraum. Dann folgten andere Migranten, die sich auf den wenigen Quadratmetern verteilten. Als die Motoren angeworfen wurden, waren 296 Menschen an Bord – einige standen auf der Luke, die zum Motorenraum führt.

Die ersten Stunden und vielleicht auch Tage verlief die Fahrt ruhig. Doch im kleinen Raum unter Deck muss die Luft immer giftiger geworden sein. Der Motor erzeugte Kohlenmonoxid und die 25 Personen erstickten langsam. Ob sie erst eingeschlafen und dann gestorben sind, ob sie noch versucht haben, an die Luft zu kommen und die Luke zu öffnen, das aber wegen der darauf stehenden Flüchtlinge nicht schafften, wird man wahrscheinlich nie erfahren.

Die Küstenwache schildert die Lage so: Ein erstes SOS erreichte sie in der Nacht auf Montag, als das Boot ungefähr 35 Meilen von Lampedusa entfernt war. Es wurde gesagt, dass man sich in Seenot befand, aber von Toten war nicht die Rede. Zwei Schiffe der italienischen Küstenwache erreichten das Flüchtlingsboot, das sehr langsam fuhr. Der Seegang war stark. In solchen Fällen verzichtet man meist darauf, die Menschen direkt auf die eigenen Schiffe zu verladen, da sich dabei oft Unfälle ereignet haben. Als man sich etwa eine Meile vor Lampedusa befand, fiel der Motor des kleinen Bootes aber aus. Kommandant Alessandro erzählt, dass man beschlossen habe, die Flüchtlinge an Bord zu nehmen. »Und als wir scheinbar alle gerettet hatten, haben meine Männer das Boot genauer untersucht und dabei die Leichen gefunden.«

Die Toten wurden in Säcke gepackt und auf der Mole aufgebahrt. Jetzt will die Staatsanwaltschaft von Agrigento Klarheit haben. »Wir haben für alle eine Autopsie angeordnet«, erklärt Staatsanwalt Renato Di Natale. »Wir wollen erst die genaue Todesursache klären und dann wahrscheinlich Mordanklage gegen Unbekannt erheben.«

* Aus: Neues Deutschland, 2. August 2011


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