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Magna Charta des Flüchtlingsrechts

Die Genfer Konvention garantiert Menschen Schutz, die in ihrer Heimat verfolgt werden

Von Christian Klemm *

Die Genfer Flüchtlingskonvention ist die Grundlage des internationalen Flüchtlingsrechts. Das Dokument ist eine unmittelbare Folge der Flüchtlingsdramen während des Vernichtungskrieges der Nationalsozialisten.

Sie war ein Novum in der Geschichte des Völkerrechts: die Genfer Flüchtlingskonvention. Seit Inkrafttreten des »Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge«, wie das Papier offiziell heißt, im April 1954 gibt es ein völkerrechtlich bindendes Abkommen, auf das sich Schutzsuchende berufen können. Wie die Gründung der Vereinten Nationen (UN) auch, war die Konvention eine unmittelbare Folge des Zweiten Weltkrieges, der Millionen Flüchtlinge hervorbrachte. Das Abkommen ist also eine Schlussfolgerung aus den Gräueltaten der Nazis, die diesen Krieg entfesselten. Die Konvention gilt international als das wichtigste Dokument für den Flüchtlingsschutz.

Die Konvention legt eindeutig fest, wer als Flüchtlinge anerkannt ist: nämlich Personen, die aufgrund von Religion, Nationalität, Rasse, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe in ihren Heimatstaaten verfolgt werden. Zu den Rechten, die das Genfer Abkommen garantiert, zählen der Schutz vor Diskriminierung wegen Rasse, Religion oder Herkunftsland, ein freier Zugang zu den Gerichten und der Schutz vor Ausweisung. Zunächst galt die Konvention nur für Menschen, die bis 1951 auf der Flucht waren. Außerdem einigten sich die Vertragsstaaten darauf, nur europäischen Flüchtlingen Schutz zu gewähren. Das 1950 gegründete UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) kümmerte sich damals um 2,1 Millionen Europäer. 1967 hob ein Zusatzprotokoll die zeitliche und geografische Einschränkung auf.

Heute haben etwa 150 Staaten die Konvention und das Zusatzprotokoll ratifiziert. Deutschland zählte zu den ersten sechs Unterzeichnern. Nach Angaben des Innenministeriums wurden seitdem etwa 385 000 Menschen in der Bundesrepublik als Flüchtlinge anerkannt. Momentan halten sich hier 115 000 Schutzsuchende auf. Deutschland nehme die Verpflichtung aus der Konvention ernst, gab Bundestagspräsident Norbert Lammert vergangene Woche zu Protokoll. Es habe »sich eher mehr als andere vergleichbare Länder darum bemüht, seinen Beitrag zur Linderung von Problemen zu leisten«, so der CDU-Politiker.

Diese Einschätzung bleibt nicht unwidersprochen. So kritisiert der grüne Migrationspolitiker Josef Winkler die Inhaftierung von Schutzsuchenden durch bundesdeutsche Behörden. »Haft und Lagerunterbringung sind insbesondere für die Menschen, die bereits in ihren Herkunftsländern inhaftiert waren, verstörend und zerstörend«, meint er. Für Ulla Jelpke von der LINKEN habe die Konvention sicherstellen wollen, dass Flüchtlinge nicht in die Länder zurückkehren müssen, die sie verfolgen. Dieses »Herzstück« des Abkommens werde auch von der Bundesregierung »auf breiter Front unterlaufen«. Die »Verletzung von Flüchtlingsrechten durch Abschiebung in vermeintlich sichere Drittstaaten« sei zu einem System geworden, sagt Jelpke.

43,7 Millionen Menschen weltweit waren 2010 auf der Flucht, teilt das UNHCR in seinem aktuellen Jahresbericht mit. Hinzu kamen in den vergangenen Monaten Hundertausende, die infolge der Aufstände in Nordafrika und im Nahen Osten ihre Heimatländer verlassen haben. Auch die Menschen, die vor der Hungersnot am Horn von Afrika fliehen, sind vom Flüchtingshilfswerk nicht berücksichtigt worden.

27,5 Millionen Flüchtlinge zählten im vergangenen Jahr als Binnenvertriebene, die als Folge von Konflikten im eigenen Land heimatlos wurden. Sie können sich nicht auf die Genfer Konvention berufen; das Dokument gilt nur für Flüchtlinge, die außerhalb ihres Heimatlandes versuchen, Schutz zu finden. Die Begründung dafür ist denkbar einfach: Nach dem Völkerrecht stehen die nationalen Regierungen in der Pflicht, das Wohl ihrer Bürger zu garantieren. »Gescheiterte« Staaten, wie das ostafrikanische Somalia, aus dem wegen der aktuellen Dürre tausende Menschen über die kenianische Grenze flüchten, und autokratische Regime können oder wollen genau das nicht gewährleisten. Seit 2006 kümmert sich das UNHCR freiwillig um die Binnenflüchtlinge.

* Aus: Neues Deutschland, 28. Juli 2011


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