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Noch eine Tragödie im Mittelmeer

Innenminister Italiens greift Regierung Maltas an

Von Anna Maldini, Rom *

Trotz einer dramatischen Rettungsaktion sind nach dem Kentern eines Flüchtlingsschiffs vor der tunesischen Mittelmeerküste bis zum Freitagnachmittag 123 Tote an Land gebracht worden. Dies erklärte ein Vertreter des tunesischen Roten Halbmonds am Freitag (3. Juni) gegenüber AFP. Das Mittelmeer wird mit dem Krieg in Libyen immer mehr zu einem Massengrab.

Das Boot mit den Flüchtlingen war in Libyen ausgelaufen, an Bord befanden sich jedoch vor allem Menschen aus Cote d'Ivoire (Elfenbeinküste), Kamerun und asiatischen Staaten, vor allem aus Pakistan. Ob die »Passagiere« tatsächlich in Libyen lebten und arbeiteten, weiß man nicht. Jedenfalls hieß ihr Ziel Europa, wo sie eine Zukunft ohne Elend und ohne Krieg finden wollten. Vor der tunesischen Insel Kerkennah geriet das Schiff in Seenot. Da das Meer in Ufernähe sehr flach ist – so rekonstruierten die Behörden in Tunis den Fall – konnten die tunesische Marine nicht sofort eingreifen, zunächst mussten einige kleinere Rettungsboote klar gemacht werden. Als die am Ort des Geschehens eintrafen, brach unter den Flüchtlingen wohl Panik aus, und das Boot kenterte: Etwa 580 Menschen konnten gerettet werden, zwei verstarben kurz darauf, die anderen verschwanden in den Wellen.

Europa zählt die Toten nicht, sondern nur die Menschen, denen die Überfahrt geglückt ist. Dieses Jahr sind allein in Italien über 42 000 Migranten aus Nordafrika eingetroffen, erklärte der italienischen Innenminister Roberto Maroni auf einer internationalen Konferenz. Über 18 000 kamen aus Libyen, in erster Linie Bürger anderer afrikanischer Staaten, vor allem Schwarzafrikaner. Die meisten von ihnen haben Anrecht auf Asyl. Während die Zahl der Migranten, die über Tunesien ausreisen, abnimmt, schwillt der Flüchtlingsstrom aus Libyen an. »Und das wird so weitergehen«, sagte Maroni, »solange der Krieg dort anhält.«

Der italienische Innenminister kritisierte noch einmal die europäische Migrations- und Flüchtlingspolitik, die nicht schnell genug auf veränderte Situationen reagiere. Vor allem griff Maroni jedoch die Regierung Maltas an, die er beschuldigt, sich nicht um Flüchtlingsboote in ihren Hoheitsgewässern zu kümmern. Er zitierte einen Fall von Ende Mai, als ein Fischerboot mit fast 1000 Flüchtlingen an Bord von der maltesischen Marine einfach in italienische Gewässer begleitet wurde.

Der Innenminister des Inselstaates, Carmelo Mifsud Bonnici, wies die Vorwürfe entschieden zurück und erklärte, die Migranten hätten »darauf bestanden, nach Italien zu reisen«. Man habe festgestellt, dass es niemandem schlecht ging, und »Rettungsringe verteilt«, bevor man ihnen den Weg nach Italien zeigte. Mehrmals seien die Flüchtlinge gefragt worden, ob sie nicht doch lieber nach Malta wollten. »Aber sie haben das abgelehnt, weil einige von ihnen auch in telefonischem Kontakt mit Verwandten in Italien standen, die sie erreichen wollten.«

Wenn man bedenkt, dass in den gleichen Stunden viele Flüchtlinge ertrunken sind, scheint eine solche Regierungserklärung eine erhebliche Dosis Zynismus, wenn nicht gar Menschenverachtung zu enthalten.

* Aus: Neues Deutschland, 4. Juni 2011


Über hundert Leichen vor Tunesien geborgen

Flüchtlingsboot bei Rettungsversuch gekentert. 600 Menschen wurden gerettet. Genaue Zahl der Toten unklar **

Rettungskräfte haben vor Tunesien über hundert Leichen aus dem Meer geborgen. Die Toten stammen von einem Schiff, das mit 800 Flüchtlingen an Bord am Mittwoch (1. Juni) vor der Insel Kerkennah bei einer Bergungsaktion gekentert war. 123 Tote seien bisher an Land gebracht worden, sagte ein Vertreter des tunesischen Roten Halbmonds am Freitag.

Die Internationale Organisation für Migration (IOM) sprach ebenfalls unter Berufung auf Angaben des tunesischen Roten Halbmonds von 150 Leichen. Die Opfer stammten demnach zumeist aus Teilen Afrikas südlich der Sahara. Sie waren von Libyen aus aufgebrochen, um über das Mittelmeer die italienische Insel Lampedusa zu erreichen.

Das Schiff war am Dienstag (31. Mai) auf eine Sandbank gelaufen, wie die tunesische Nachrichtenagentur TAP berichtete. Bei einer Rettungsak­tion der tunesischen Behörden hätten die Insassen verzweifelt versucht, in Rettungsboote zu gelangen, wodurch starkes Gedränge entstanden sei. Das Schiff sei darauf umgekippt. Tunesisches Militär hatte rund 570 Passagiere in Sicherheit bringen können, über 200 Leute galten zunächst als vermißt.

Der Einsatz sei extrem schwierig gewesen, hieß es in italienischen Medien. Die Einheiten hätten sich nur in kleinen Schiffen und Schlauchbooten dem havarierten Kutter nähern können, weil er sich in flachem Wasser befand.

Die Überlebenden wurden in das Flüchtlingslager Choucha an der tunesisch-libyschen Grenze gebracht. Am Freitag sollten die tunesische Armee allein 400 Überlebende dorthin geleiten.

Seit Januar haben 42000 Immigranten versucht, über die als extrem gefährlich geltende Mittelmeerroute Italien und damit Europa zu erreichen. Nach UN-Angaben kamen seit dem Beginn des Aufstands in Libyen etwa 1200 Menschen bei ihrer Flucht ums Leben.
(AFP/jW)

** Aus: junge Welt, 4. Juni 2011


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