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Der Kleinstadtmob

Und wieder auf der Flucht: Rassistische Übergriffe in der kalabrischen Kleinstadt treiben über tausend Saisonarbeiter in Notunterkünfte außerhalb Rosarnos

Von Gloria Fernandez *

Ausbeutung pur erfahren alljährlich die schwarzen Saisonarbeiter, durchweg Einwanderer aus verschiedenen Ländern Afrikas, in der Kleinstadt Rosarno an der Westküste Kalabriens. Als illegal eingesetzte Helfer bei der Orangenernte erhalten sie für ihr hartes Tageswerk im trostlosen italienischen Winter etwa 20 Euro. Nach getaner Arbeit geht es dann von den Feldern zurück in die Unterkünfte - in der Regel Hütten aus Plastikplanen. Doch machen nicht nur die Arbeitsbedingungen den weit über tausend Menschen zu schaffen, sondern auch das rassistische Klima, das sich in der Region entwickelt hat: Das zumindest veranschaulichten die Auseinandersetzungen, die Rosarno in den vergangenen Tagen erschütterten, auf dramatische Weise. 66 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt.

Auslöser der Kämpfe zwischen Einwanderern, Einwohnern und Polizisten waren gezielte Schüsse am Donnerstag abend: Unbekannte feuerten aus einem Auto auf von der Arbeit auf den Orangenfeldern zurückkehrende Immigranten. Mittlerweile wird vermutet, daß es sich bei den bewaffneten Gangstern um Mitglieder der kalabrischen Mafia handelte, die eingesetzt wurden, um die Saisonarbeiter gefügig zu machen. Diese hatten in der Vergangenheit den Ruf erworben, sich von den Plantagenbesitzern nicht alles gefallen zu lassen.

Und also setzten sich auch am vergangenen Donnerstag abend (7. Jan.) einige hundert der Immigranten zur Wehr. Demonstrierend zogen sie in den etwa 15000 Einwohner zählenden Ort und protestierten gegen die Übergriffe. Auf schnell gefertigten Schildern forderten sie ein Ende der »rassistischen Gewalt«. Schließlich kam es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. In deren Folge gingen Fensterscheiben zu Bruch und Autos in Flammen auf.

Was sich dann am Freitag (8. Jan.) in Rosarno abspielte, zeigt, daß Gefahren für Minderheiten in Kalabrien, eine der ärmsten Provinzen Italiens, nicht nur von Mafia und Großgrundbesitz ausgehen. »Aufgebrachte Anwohner« nennt die Agentur AFP den gewalttätigen Mob, der Jagd auf Immigranten machte. Die Leute hätten sich »offenbar rächen« wollen »und attackierten die Einwanderer mit Schrotflinten und Eisenstangen. Sie fuhren mehrere Afrikaner absichtlich mit ihren Autos an, errichteten Barrikaden und besetzten das Rathaus.« Erst am Samstag flaute die rassistische Gewaltwelle ab - und das auch nur, weil zwischenzeitlich von den Behörden Massenevakuierungen in »Auffanglager« angekündigt waren.

Von Freitag zu Samstag (8./9. Jan.) übernachteten einige hundert Immigranten in einer Fabrik in Rosarno, dann fanden sie Quartier in einer Notunterkunft im 170 Kilometer entfernten Crotone, berichtete die italienische Nachrichtenagentur ANSA. Hunderte weitere Einwanderer wurden im Laufe des Wochenendes aus Rosarno weggebracht. In Crotone stehen insgesamt 450 Schlafplätze zur Verfügung, in Brindisi und Bari in Apulien 800 weitere. Einige der Immigranten hätten aus Furcht sogar auf die Auszahlung ausstehenden Lohns verzichtet, erklärte Laura Boldrini, eine Vertreterin des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge in Italien.

Am Wochenende wurde Kritik an den Behörden des Orts, aber auch der Region laut. Seit längerer Zeit, so die lokale Internetzeitung Strill.it, sei das »Pulverfaß« in Rosarno ignoriert worden. Und die Gewerkschaft CGIL rechnete vor, daß etwa 50000 Migranten in Italien unter ähnlichen Bedingungen wie denen von Rosarno leben müssen. Die konservativ-reaktionäre Zentralregierung in Rom reagierte indes wie so häufig: Sie verstärkte das Polizeiaufgebot. Nach einem Bericht der Zeitung Corriere della Sera wurden weitere 200 Carabinieri in die Stadt entsandt, »um für Sicherheit zu sorgen und die Abfahrt der Einwanderer zu überwachen«.

Mehrere hundert Immigranten bestanden allerdings darauf, in Rosarno zu bleiben. Sie sehen keine Zukunft in der Flucht. Die kennen sie zur Genüge.

* Aus: junge Welt, 11. Januar 2010


Mob und Mafia regieren in Rosarno

Jagd auf Einwanderer in Süditalien

Von Anna Maldini, Rom **


In süditalienischen Rosarno fand in den letzten Tagen eine der furchtbarsten rassistischen Episoden statt, die Europa in den letzten Jahren erlebt hat. Ein aufgebrachter Mob, wahrscheinlich von der örtlichen Mafia inspiriert und angeführt, vertrieb mit brutaler Gewalt etwa 2000 Landarbeiter, die Mehrzahl aus Schwarzafrika. Ihre »Schuld«: sie hatten sich gegen die menschenunwürdigen Lebens- und Arbeitsbedingungen aufgelehnt.

Für einen Hungerlohn hatten die Arbeiter monate- und jahrelang Apfelsinen und Oliven, Clementinen und Tomaten von den Feldern geholt. Einen Teil ihres Lohns mussten sie dann auch noch an sogenannte Arbeitsvermittler abgeben, die sie jeden Morgen zu den Landbesitzern brachten. Gegen diese absolut illegale Praxis hatten sie protestiert.

Das wollte die örtliche Mafia, die 'Ndrangheta, nicht hinnehmen und schickte ein Killerkommando in das Städtchen - zwei Arbeitnehmer wurden schwer verletzt. Als die Afrikaner dann einen Protestmarsch organisierten, wurden sie auch von den Bewohnern von Rosarno angegriffen. Es kam zu blutigen Zusammenstößen mit der Polizei, Autos wurden in Brand gesteckt, Fensterscheiben zerschlagen. Gruppen von Männern, die sich als »Bürgerwehr« bezeichneten, verfolgten die Landarbeiter bis in ihre armseligen Behausungen und schlugen mit Stöcken auf sie ein. Schließlich luden die Ordnungskräfte die Afrikaner in Busse und brachten sie in Auffanglager. Viele von ihnen wurden sofort ausgewiesen. Was aus den anderen wird - einige mit regulärer Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung, andere Asylanten - ist noch nicht klar.

So weit die beängstigenden Fakten. Aber es kommt noch schlimmer. Noch während der Straßenschlachten in Rosarno erklärte Innenminister Roberto Maroni, man sei gegenüber den Ausländern schon viel zu lange viel zu tolerant gewesen und jetzt sei Schluss. Fast die gesamte Medienlandschaft sprach von den »gewalttätigen Illegalen« und den braven Bürgern von Rosarno, die von den »Negern« angegriffen worden waren. Selbst die parlamentarische Opposition reagierte - wenn überhaupt - unentschlossen und halbherzig. Die Gewerkschaften glänzten durch Abwesenheit. Nur vereinzelt wurden Stimmen laut, die von »moderner Sklaverei« und »unerträglicher Ausbeutung« sprachen. Die Rolle der 'Ndrangheta, die in Kalabrien das gesamte öffentliche Leben beherrscht und die offensichtlich auch diesmal entscheidend war, wurde mehr oder weniger unter den Tisch gekehrt. Kaum jemand wies darauf hin, dass die afrikanischen Migranten genau das getan hatten, was Politik, Kirchen und Institutionen seit vielen Jahren fordern: Die Bevölkerung solle sich gegen die Willkürherrschaft der organisierten Kriminalität auflehnen.

Jetzt ist es in Rosarno wieder einigermaßen ruhig. In wenigen Tagen wird man die Arbeiter, die am in den vergangenen Tagen flüchten mussten, durch andere rechtlose und erpressbare Menschen ersetzt haben. Und kaum jemand wird aufschreien und daran erinnern, dass in Italien die universellen Menschenrechte erneut mit Füßen getreten wurden und der übelste Rassismus wieder einmal gesiegt hat.

** Aus: Neues Deutschland, 11. Januar 2010


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