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Die Offene Klinik der Ärzte für Menschenrechte - Israel

Afrikanische Folteropfer aus dem Sinai, Flüchtlinge, Migranten und das Recht auf Gesundheit *

In den letzten drei Jahren haben Hunderte von Flüchtlingen Azezet Kidane von den unerträglichen körperlichen und seelischen Qualen erzählt, die ihnen Menschenschmuggler in der Wüste Sinai zugefügt hatten. "Kein Mensch sollte je die ungeheuren Zeugnisse hören müssen, die ich täglich bei der Offenen Klinik aufschreibe", sagt sie. Die eritreische Nonne und Krankenschwester ist eine der einhundert Freiwilligen, Ärztinnen und Ärzte, Krankenpfleger, Übersetzer und Studenten, die im Süden von Tel Aviv – Jaffa die Offene Klinik des medico-Partners Ärzte für Menschenrechte - Israel führen. 1998 gegründet, ist die Klinik der Ort, an dem Menschen, denen die Teilnahme an der staatlichen Gesundheitsversorgung aufgrund ihres legalen Status verweigert wird, kostenfreien Zugang zu Gesundheitsdiensten haben.

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Hier geht es zu ausgewählten Zeugenaussagen (englisch): Selected testimonies of Sinai victims collected by Sister Aziza in PHR-I open clinic



Da ist etwa die Gruppe von dreißig eritreischen Frauen, die eben aus einer israelischen Haftanstalt entlassen wurden. Mehrere Monate wurden sie dort festgehalten. Eine israelische Ärztin, die junge Leiterin der Offenen Klinik Shahar Shoham und Schwester Aziza versuchen herauszufinden, was jede von ihnen benötigt. Ohne Schwester Aziza, die lange Jahre eritreische Flüchtlinge in Südsudan und Jordanien betreute und mit ungeheurer Empathie spricht, würden die Frauen kaum etwas von sich preisgeben. Doch nach und nach öffnen sie sich und erzählen, wie sie aus Eritrea flohen, im Sudan oder Äthiopien entführt und über das ägyptische Festland bis auf den Sinai verschleppt wurden, von Folter und Vergewaltigungen durch Entführerbanden aus den Reihen der Beduinenstämme des Sinai, die von den Familien der Entführten große Geldsummen erpressen.

Israel: Flüchtlinge nicht willkommen

Diese Frauen überlebten die Foltermonate, entkamen zudem den Schüssen der ägyptischen Grenzsoldaten auf der Flucht über die Grenze nach Israel. Dort angekommen, sind sie vor der Folter sicher, doch willkommen sind sie auch hier nicht. Israel versteht sich als sicherer Hafen für alle Juden, nimmt folglich jeden jüdischen Flüchtling auf. Doch seit 1976 hat Israel lediglich 176 (sic!) Asylanträge von Nichtjuden anerkannt, etwa 0,02 Prozent aller gestellten Anträge. Die Mehrheit der 55.000 staatlich nicht anerkannten in Israel lebenden Flüchtlinge, zu zwei Dritteln Eritreer, darunter geschätzte 7.000 Folteropfer aus dem Sinai, leben in einer rechtlichen Grauzone bis zu einer Abschiebung. Damit bleibt ihnen der Zugang zu staatlichen Diensten, etwa zu Gesundheitsdiensten verwehrt. Da sie auch nicht arbeiten dürfen, sind sie zu einem Leben in Armut verdammt und driften zudem in die Illegalität.

Angesichts wachsender Flüchtlingszahlen aus Afrika startete die israelische Regierung zudem eine Kampagne gegen die Flüchtlinge, bei der sie sie als gefährliche "Eindringlinge" charakterisierte. "Eindringlinge" wurden auch die Palästinenser genannt, die vor allem in den Jahren nach der Gründung des Staats versucht hatten, aus dem libanesischen oder jordanischen Exil in ihre Dörfer zurückzukehren. Ein Gesetz gegen die "Eindringlinge" ermöglichte ihre sofortige Deportation. Eben diese Darstellung verfehlte ihr Ziel nicht, denn, so Shahar Shoham, die jahrzehntelange Wahrnehmung und Behandlung der Palästinenser als Sicherheitsrisiko machte die israelische Gesellschaft dafür empfänglich, alle Fremden als Gefahr anzusehen.

Die Folge ist eine Welle von Rassismus und Xenophobie, die schon mehrere Jahre andauert. Lokalpolitiker bezeichnen Flüchtlinge als "Krebsgeschwür", "stinkende Ausländer" oder als "existentielles Problem", Rabbiner empfahlen, keine Wohnungen an Afrikaner zu vermieten, und im ganzen Land gab es Demonstrationen, die in der Plünderung von Geschäften und Angriffen mit Molotowcocktails auf Wohnungen und einem Kindergarten gipfelten.

Die zunehmend fremdenfeindliche Öffentlichkeit ermöglichte es der Regierung, ihre Politik weiter zu verschärfen: Das Gesetz gegen Eindringlinge wurde ausgeweitet. Jede Person, die Israels Grenzen illegal überschreitet ist jetzt ein "Eindringling" und erhält eine Mindeststrafe von drei Jahren Gefängnis. Anstatt traumatisierte Überlebende in Rehabilitationsprogramme aufzunehmen, wurden Internierungslager mit Tausenden von Plätzen gebaut. Dort werden die Flüchtlinge für Monate festgehalten - ohne Gerichtsverfahren. Zudem hat die Regierung mit enormem Aufwand einen 240 Kilometer langen Zaun entlang der Grenze gebaut. Eine massive Präsenz von Soldaten, die auch von einer völkerrechtswidrigen Rückführung von Flüchtlingen ohne Einzelprüfung nicht zurückschrecken, hat dazu geführt, dass in den ersten vier Monaten von 2013 lediglich 28 Flüchtlinge in Israel ankamen. Die noch im Land verbliebenen Migranten sollen abgeschoben werden. Auch die aus Eritrea. Damit wäre Israel der erste Staat, der eritreische Flüchtlinge den enormen Gefahren einer erzwungenen Rückkehr aussetzen würde.

Hilfe verteidigen – Hilfe überwinden

Der Flüchtlingsstrom ist durch diese Maßnahmen abgeebbt und damit auch der Bedarf an Soforthilfe. Dafür steigt die Notwendigkeit an psychologischer und psychiatrischer Betreuung, sowie Nachbehandlungen von Schussverletzungen oder die Bewältigung von physischen Folgen der Folter, etwa im orthopädischen Bereich. Rehabilitationsdienste kann die Offene Klinik kaum anbieten. Ein umfangreiches Netzwerk von Ärzten ist jedoch bereit Patienten kostenlos in ihren privaten Kliniken kostenfrei oder gegen geringe Entgelte zu behandeln. Die Ärzte für Menschenrechte koordinieren solche Überweisungen, doch es bleibt Flickwerk, so Shahar Shoham: Eine zufriedenstellende Antwort auf die schwerwiegenden Probleme der Patienten kann es nur im Rahmen der staatlichen Gesundheitsdienste geben.

Nicht nur deshalb versuchen die Ärzte für Menschenrechte Druck auf den Staat auszuüben. Vielmehr möchte der medico-Partner den Staat nicht aus seiner Verpflichtung befreien, den Zugang zu Gesundheit für alle zu garantieren - unabhängig vom sozialen und rechtlichen Status der Person. Deshalb nutzen sie das bei der alltäglichen Arbeit in der Offenen Klinik gewonnene Vertrauen und Wissen, um die Probleme der verschiedenen "Unsichtbaren" der israelischen Gesellschaft zu thematisieren und auf die Aufhebung von Diskriminierungen zu drängen. In der Offenen Klinik erscheinen Israels Ausgrenzungsmechanismen quasi seismographisch sichtbar. Waren es in den Gründungsjahren vorwiegend Arbeitsmigranten aus Sri Lanka oder den Philippinnen - Opfer struktureller Ausbeutung und mangelnden staatlichen Schutzes, so kamen später jene Palästinenser aus den besetzten Gebieten hinzu, die israelische Araber heirateten, Familien gründeten, dann aber durch ein neues, diskriminierendes Gesetz rückwirkend alle Rechte verloren und damit auch den Zugang zu Gesundheit.

Diese Art individuelle Hilfe zu verteidigen und gleichzeitig die Rahmenbedingungen, die diese Hilfe erst nötig machen, effektiv und radikal aufzudecken trug maßgeblich dazu, dass die Welt von dem Folterdrama auf dem Sinai überhaupt erfahren konnte. Es begann mit einer unerklärlich steigenden Nachfrage nach Abtreibungen und orthopädischen Hilfen, der die Ärzte für Menschenrechte der Sache nachgehen ließ. In einem ersten Schritt interviewten sie unter maßgeblicher Mitarbeit von Schwester Aziza und zusammen mit der Hotline for Migrant Workers etwa 1.300 Zeugen. Dann systematisierten sie das gewonnene Wissen und konnten sich, und später die Weltöffentlichkeit von einem systematischen Foltersystem auf dem Sinai überzeugen: Sie stellten ihre Ergebnisse seitdem Politikern, Komitees und Ausschüssen in der Knesset, in Brüssel, Washington und Genf vor, hunderte Pressebeiträge erschienen bislang in der internationalen Presse, und die Vereinten Nationen sowie mehrere Regierungen haben sich eingeschaltet und bemühen sich darum, diesem menschenverachtenden Treiben ein Ende zu bereiten.

Derweil ist die Lage in Israel selbst zwiespältig. Zwar ist ein Bewusstsein für die Problemlage und über die Solidarität mit den Folteropfern eine Gegenöffentlichkeit entstanden, die gegen Abschiebungen zu kämpfen bereit ist. Doch angesichts der offen zur Schau getragenen Fremdenfeindlichkeit breiter Schichten bis in die Spitzen der Politik bedarf es internationalen Drucks, um wenigstens die drohende Abschiebung der Folteropfer zu verhindern.

* Quelle: medico international, 14.08,.2013; www.medico.de/

Spendenstichwort

medico international unterstützt die Ärzte für Menschenrechte - Israel jährlich mit ca. 30.000 €: Mittel für die juristischen Auseinandersetzungen und für ihre Fallstudien, Kosten für die wöchentlichen Fahrten der mobilen Kliniken in die Westbank, die laufenden Kosten der Offenen Klinik; weil alle BewohnerInnen in Israel/Palästina ein Recht auf Gesundheit haben – ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft oder ihres Aufenthaltstatus.
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