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Stadtstaat "technokratisch und gewissenlos"

Hamburg: Kriegsflüchtlinge aus Libyen sollen ein Dach über dem Kopf bekommen – bis zur Abschiebung

Von Martin Dolzer *

Rund zwei Jahre ist es her, daß die 300 zur Zeit in Hamburg auf der Straße lebenden Afrikaner kriegsbedingt aus Libyen fliehen mußten. »Die Politiker ignorieren unsere Forderungen und Situation«, sagte Asuquo Okono Udo, einer der Sprecher der Gruppe, auf einer Pressekonferenz im Rahmen ihrer Dauermahnwache am Hauptbahnhof Mitte der Woche. »Als Kriegsflüchtlinge haben wir in Italien einen humanitären Status bekommen, der uns berechtigt, in der EU zu leben. Nun wird offenbar beabsichtigt, uns in unverantwortlicher Weise möglichst schnell wieder zu vertreiben.« Sich hin und her schieben zu lassen sei aber keine Lebensperspektive.

Am Vortag hatte der Hamburger Senat ein Treffen von Senatoren mit den Flüchtlingen angekündigt, als diese für das Recht auf unbegrenzten Aufenthalt, medizinische Versorgung, Arbeit und Bildung demonstrierten. Zum Erstaunen der Flüchtlinge kam zum Gespräch die Vertreterin der Sozialbehörde für Obdachlose, die sich weigerte, über eine einvernehmliche Lösung zu diskutieren. Statt dessen erklärte sie, die Stadt bemühe sich um ein Gebäude, in dem die Geflohenen für vier bis sechs Wochen »ein Dach über dem Kopf« bekommen könnten. Zuvor sollten sie sich in der Ausländerbehörde registrieren lassen, um sich dann auf eine vom Senat anvisierte Abschiebung nach Italien vorzubereiten.

Seit April sind die zumeist aus Westafrika stammenden Flüchtlinge, die vor dem Krieg in Libyen Arbeit hatten, gezwungen, in Hamburg auf der Straße zu leben. Zuvor verbrachten sie eineinhalb Jahre unter widrigen Umständen auf Lampedusa, bevor Italien sie – angeblich mit Bahntickets und Bargeldbeträgen bis zu 500 Euro ausgestattet – nach Nordeuropa verwies. Dies sei in Absprache mit Deutschland und im Einklang mit dem europäischen Recht geschehen, betont das italienische Innenministerium. Dessen Sprecher sagte der Zeitung La Repubblica, am 17. Mai hätten sich in Berlin deutsche und italienische Vertreter getroffen, um über den Umgang mit Flüchtlingen zu beraten.

In Hamburg wird unterdessen auf stur geschaltet: Eine Anmeldung mehrerer Notzelte durch den Bezirksabgeordneten der Linksfraktion Eimsbüttel, Hartmut Obens, wies die Versammlungsbehörde ohne haltbare Begründung zurück. Langfristigen Lösungsvorschlägen von Kirchenvertretern verschließt sich der Senat bisher hartnäckig. Viele der Flüchtlinge sind aufgrund anhaltend schlechten Wetters krank. Vier mußten ins Krankenhaus eingeliefert, unzählige von Ärzten behandelt werden, die ehrenamtlich einsprangen.

Antje Möller von den Grünen und Christiane Schneider, innenpolitische Sprecherin der Hamburger Linksfraktion, forderten am Mittwoch in der Bürgerschaft ein langfristiges Aufenthaltsrecht für die Kriegsflüchtlinge und kritisierten »die beschämende Untätigkeit« des Senats. Sozialsenator Scheele SPD sprach von Bemühungen um eine humanitäre Zwischenlösung und sagte, daß »die Afrikaner keine Arbeitserlaubnis und somit auch keine Perspektive in Hamburg« hätten. Sie müßten daher nach Italien abgeschoben werden. »Der Senat versucht wie die Regierung in Orwells Roman ›1984‹ die Realität umzudeuten: Schuld an der Situation sei Italien, nicht der Krieg – Abschiebung wird als humanitärer Akt gedeutet. Diese menschenverachtende Logik ist technokratisch und gewissenlos«, sagte eine Aktivistin des Solidaritätskomitees für die Kriegsflüchtlinge.

»In Gesprächen auf Augenhöhe muß eine Lösung gefunden werden, die unserer besonderen Situation gerecht wird«, fordert Affo Tchassei, einer der Flüchtlingssprecher. »Die Zerstörung des sozialen Systems und der Lebensgrundlagen in Libyen haben NATO und EU verursacht.« Insgesamt flohen deshalb 60000 Menschen nach Europa.

* Aus: junge Welt, Freitag, 31. Mai 2013


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