Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Verbrechen auf hoher See

Griechische Grenzschützer zerstören vollbesetzte Boote von Flüchtlingen

Von Heike Schrader, Athen *

Wir sind um 11.15 Uhr aufgebrochen. Es war Ende Februar 2013. [...] Wir waren seit dreieinhalb Stunden auf dem Meer, als wir auf das griechische Polizeiboot stießen. Sie nahmen uns an Bord. Sie schlugen uns sehr hart. Sie nahmen uns unser Geld, unsere Mobiltelefone, unsere Kleidung. Alles, was wir hatten. Sie schlugen auch meine Schwester so, daß sie überall am Körper Blutergüsse hatte. [...] Gegen 18.00 Uhr fuhren sie uns in türkische Gewässer zurück. Sie setzten uns wieder in unser Boot, schlitzten dessen Seite mit dem Messer auf, zerstörten das Boot und nahmen den Motor weg und ließen uns mitten auf dem Meer zurück. Wir waren insgesamt 42 Menschen, darunter drei kleine Kinder. Es gab noch weitere Kinder, die waren älter. Sie ließen uns mitten auf dem Meer zurück mit nichts als einem zerstörten Boot.«

Die Anklage des 17jährigen B. aus Afghanistan ist nur ein Bericht aus insgesamt etwa 80 Interviews, die Amnesty International (AI) mit über die Türkei nach Griechenland Geflüchteten im März und April dieses Jahres führte. Der am Dienstag unter anderem in Athen vorgestellte Bericht der Menschenrechtsorganisation enthüllt erschreckende Tatsachen über Verbrechen an Flüchtlingen und Migranten an einer Außengrenze der EU. Dreizehn von vierzehn Befragten, die die wenige Seemeilen lange Strecke zwischen dem türkischen Festland und den griechischen Inseln als Fluchtroute gewählt hatten, berichteten von ähnlichen Erlebnissen. Auch ihnen waren die Boote aufgeschlitzt oder zum Kentern gebracht worden, hatte man Motor oder Ruder weggenommen. Die Menschen wurden in sinkenden, steuerlosen Wracks in türkischen Gewässern im Stich gelassen.

Bereits vor 2010 lag das Meer zwischen der Türkei und Griechenland auf der Hauptroute für durch Elend, Krieg und Bürgerkrieg aus ihren Heimatländern vertriebene Menschen auf dem Weg in ein vermeintlich besseres Leben vorzugsweise in den reichen Ländern Europas. Deren Staaten riegelten daraufhin mit dem Einsatz von einheimischen und Frontex-Grenzschützern auf Schnellbooten die Seegrenze weitgehend ab. Bereits damals hatten Menschenrechtsorganisationen das Leben der Flüchtlinge gefährdende und ihre Rechte mißachtende Praktiken angeklagt.

Die von den Flüchtlingen ersatzweise frequentierte Landroute am Evros-Delta im Norden zwischen der Türkei und Griechenland wurde 2012 ebenfalls mit dem Einsatz von Frontex, aber auch mit dem Bau eines 10,5 Kilometer langen Zauns dicht gemacht. So effektiv, daß nach Angaben der griechischen Polizei in den ersten fünf Monaten dieses Jahres nur noch 336 Menschen bei dem Versuch, die Grenze zu überwinden, festgenommen wurden. Im Jahr davor waren es im gleichen Zeitraum noch 15877 Menschen gewesen. Da die Gründe für eine Flucht inzwischen aber keineswegs weniger, sondern eher mehr geworden sind, hat sich die Zahl der Flüchtlinge nicht entscheidend geändert. Sie »wählen« nur erneut den weitaus gefährlicheren Seeweg für ihre Flucht nach Europa.

Um sie daran zu hindern, schrecken die Grenzer nach dem Bericht von AI vor diversen Brüchen internationalen Rechts nicht zurück. AI dokumentiert zahlreiche Fälle, in denen Migranten und Flüchtlinge unmittelbar nach Ankunft in Griechenland in Gruppen wieder zurück in die Türkei geschoben wurden. Derartige Massenabschiebungen ohne Einzellfallprüfungen der Fluchtgründe sind nach europäischem Recht strikt verboten. Gleiche Massenabschiebungen folgen auch auf das massenhafte »Einsammeln« vorzugsweise dunkelhäutiger Menschen durch die griechische Polizei in den griechischen Metropolen. Dabei berichtet AI auch von Fällen, in denen Menschen trotz eines in Bearbeitung befindlichen Asylantrags und daraus resultierender Aufenthaltserlaubnis abgeschoben wurden.

Zentraleuropa läßt sich die Praxis der Flüchtlingsbekämpfung gern etwas kosten: 277576503 Euro stellt die EU für Rückführung von Migranten und Grenzsicherung für die Jahre 2011 bis einschließlich 2013 zur Verfügung. Für die Flüchtlinge gibt es dagegen nur knapp 20 Millionen Euro.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 11. Juli 2013


Zurück zur Seite "Migration, Flucht und Vertreibung"

Zur Griechenland-Seite

Zurück zur Homepage