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Friedrichs Sündenböcke

Bundesinnenminister wettert gegen Armutsmigration aus Bulgarien und Rumänien. Experten warnen vor Hysterie und Antiziganismus

Von Ulla Jelpke *

Am Montag hat Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) seine seit Wochen vorgebrachten Verbalattacken auf Migranten aus Bulgarien und Rumänien im Spiegel erneuert. Wer nur komme, um Sozialleistungen zu kassieren und das Freizügigkeitsrecht zu mißbrauchen, müsse davon »wirksam abgehalten werden«. Der Präsident des Ifo-Wirtschaftsinstituts, Hans-Werner Sinn, schwadroniert sogar von einer »Erosion des deutschen Sozialstaats«, wenn der Zuwanderung kein Riegel vorgeschoben werde. Und anläßlich einer Debatte im Deutschen Bundestag vergangene Woche kündigte CDU-Rechtsaußen Reinhard Grindel an, »in den kommenden Wochen und Monaten mit den Menschen in den von ungesteuerter Zuwanderung betroffenen Städten intensiv darüber reden« zu wollen, wie diese verhindert werden könne.

Der Deutsche Städtetag hat Ende Januar ein Papier vorgelegt, in dem die Bundesregierung ebenfalls aufgefordert wird, sich für eine bessere »Steuerung« der Armutsmigration aus Bulgarien und Rumänien einzusetzen. Die Kommunen müßten in erheblichem Umfang Sozialleistungen für diese Gruppe erbringen und seien überfordert. Wie viele »Armutsmigranten« es tatsächlich gibt, darüber können allerdings weder Städte noch der Bund exakte Aussagen treffen. Für 2011 – neuere Zahlen liegen nicht vor – gibt das Statistische Bundesamt die Zuzüge bulgarischer und rumänischer Migranten mit 147091 an. Allerdings reduziert sich durch Wegzüge in andere EU-Staaten oder Rückkehr die Nettozuwanderung für 2011 auf 58350 Menschen. Und das sind in erster Linie Saisonarbeitskräfte, die gar nicht das ganze Jahr in der Bundesrepublik verbringen, sowie Akademiker, Facharbeiter und zahlreiche Studierende, die ebenfalls nicht ins Bild der Armutsmigranten passen.

Aktuell läßt sich also nicht belegen, daß eine riesige Anzahl an Migranten das deutsche Sozialsystem dem Kollaps nahebringt. Der Blick richtet sich deshalb auf den 1. Januar 2014: Dann fallen die letzten Einschränkungen, mit denen die Bundesregierung den deutschen Arbeitsmarkt vor Arbeitssuchenden aus Rumänien und Bulgarien schützen will. Staatsangehörige beider Länder profitieren dann voll von den Freizügigkeitsregeln der EU und können sich zur Arbeitssuche nach Deutschland begeben. Spätestens nach drei Monaten haben sie auch Anspruch auf Sozialleistungen. Bewußt schüren Friedrich und andere nun die Angst davor, daß sich die 1,5 Millionen Roma aus beiden Ländern auf den Weg nach Deutschland machen, um Sozialhilfe zu beziehen. Friedrich will diese Gelegenheit offensichtlich nutzen, sich ein weiteres Mal als Hardliner in Sachen Zuwanderung zu profilieren. Der Migrationsexperte Prof. Klaus J. Bade warnte deshalb im Online-Magazin Migazin.de vor »Hysterie« und »symbolpolitischen Ersatzhandlungen«, mit denen fahrlässig Abwehrhaltungen in der Bevölkerung bestärkt würden. Auch der Balkan-Experte Norbert Mappes-Niediek beklagte in der taz, daß die derzeitige Debatte von Klischees über Roma geprägt sei – dabei verhielten die sich wie ganz normale Arme: Sie versuchen, ihrer Armut zu entkommen. In Deutschland stoßen sie dabei nicht auf offene Arme. Nach Angaben aus der Studie »Deutsche Zustände« des Soziologen Wilhelm Heitmeyer wollen 40 Prozent der Deutschen nicht mit Roma in einer Wohngegend leben. Das ist das Reservoir, aus dem Friedrich in seinem Wahlkampf schöpfen will.

Dafür ist ihm aber auch nichts zu dumm. So kündigte er für den Rat der EU-Innenminister an diesem Donnerstag in Brüssel an, sein Veto gegen die Schengen-Vollmitgliedschaft Bulgariens und Rumäniens einlegen zu wollen. Damit könnten die beiden Staaten weiterhin keine Visa für den gesamten Schengenraum ohne Binnengrenzkontrollen erteilen, Drittstaatsangehörige werden weiterhin bei der Einreise in einen Schengenstaat kontrolliert. Mit der Frage der Freizügigkeit für Arbeitnehmer in der EU hat all das nichts zu tun, es soll lediglich Handlungsfähigkeit vortäuschen.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 6. März 2013


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