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Unschuldig eingesperrt

Flüchtlingsdienst stellt Alternativen zur Abschiebungshaft in drei EU-Ländern vor

Von Christian Klemm *

Damit sich Migranten einer geplanten Abschiebung nicht entziehen können, werden sie in Haft gesteckt. Das muss und kann vermieden werden, meint der Jesuiten-Flüchtlingsdienst. Eine neue Studie belegt diese Auffassung.

In Deutschland dürfen EU-Ausländer nur mit einer gültigen Aufenthaltsgenehmigung bleiben. Ist diese abgelaufen oder wird ein Asylverfahren zu Ungunsten eines Flüchtlings entschieden, so ist der Betroffene zur Ausreise aufgefordert. Doch die deutschen Behörden sind misstrauisch; die dort beschäftigten Sachbearbeiter befürchten, dass der ausreisepflichtige Ausländer in die Illegalität abtaucht, um sich der Ausreise zu entziehen. Um das zu verhindern, wird vorgesorgt: Der Betroffene wandert in Abschiebungshaft, damit der menschliche Abtransport reibungslos vollzogen werden kann. Laut Rückführungsrichtlinie der Europäischen Union kann die Haft bis zu 18 Monate dauern.

Die Abschiebungshaft hat Folgen. Berichtet wird von einer Verschlechterung des körperlichen wie seelischen Wohlbefindens. Nicht selten gibt es Suizidversuche. So erhängte sich zum Beispiel Slawik C. in der JVA Langenhagen (Niedersachsen) Mitte 2010. Der Mann lebte seit 1999 mit seiner Frau und seinem Sohn in Deutschland und sollte, von diesen getrennt, abgeschoben werden.

Die Studie »Abschiebungshaft vermeiden«, die der Jesuiten-Flüchtlingsdienst kürzlich vorgelegt hat, stellt Alternativen zu dieser drastischen Maßnahme in drei EU-Staaten vor. In Belgien stehen sogenannte lieux d'hebergement unter anderem für Familien ohne Papiere, die bereits im Land leben, und für Familien, die an den Grenzen des Landes einen Asylantrag gestellt haben, zur Verfügung. In diesen Herbergen werden die Flüchtlinge untergebracht und von einem Sozialarbeiter betreut. Die Studie berichtet außerdem von einer relativ offenen Einrichtung in Deutschland, wo minderjährige Asylsuchende und Jugendliche ohne Papiere sowohl leben als auch betreut und in asyl- und aufenthaltsrechtlichen Fragen beraten werden. Außerdem wird auf das repressive Meldesystem für Flüchtlinge in Großbritannien eingegangen, wo zum Teil auch elektronische Fußfesseln zum Einsatz kommen. Insgesamt wurden in den drei Staaten 25 Migranten interviewt.

Die Lebensbedingungen in der untersuchten deutschen Einrichtung werden in der Studie für gut befunden. Für die Grundbedürfnisse der Jugendlichen werde ausreichend gesorgt und ein Gefühl der Sicherheit vermittelt. Gleiches gilt für die Familienunterkünfte in Belgien. »Die Betroffenen fühlen sich sehr sicher und sind in guter physischer Verfassung«, ist in der Untersuchung zu lesen. Es gibt Spielplätze für die Kinder, und die Wohneinheiten sind nicht als Einrichtungen der Immigrationsbehörde gekennzeichnet. »Das vermittelt offenbar ein Gefühl der Normalität«, heißt es weiter.

Diese Lebensbedingungen unterscheiden sich deutlich von denen, die der Flüchtlingsdienst im Vereinigten Königreich vorgefunden hat. Die zehn Betroffenen dort, vorwiegend abgelehnte Asylbewerber, leben in einer Situation, »die von Armut und Hilflosigkeit geprägt ist«. Ihnen werde keine sichere Unterkunft zur Verfügung gestellt. Sie hätten massive Schwierigkeiten, ihre elementaren Grundbedürfnisse zu befriedigen. »Der Kampf um ein Bett für die Nacht, etwas zum Essen und Geld für die öffentlichen Verkehrsmittel stellte offenkundig eine erhebliche Belastung für die Einzelnen dar«, argumentieren die Verfasser der Studie. Im Gegensatz zu Asylantragstellern haben abgelehnte Asylbewerber in Großbritannien keinen Anspruch auf Sozialhilfe.

Das Ergebnis der Studie ist eindeutig: Es gibt Alternativen zur Abschiebungshaft. »Die Betroffenen sind bereit, mit den Behörden zu kooperieren, wenn sie den Eindruck haben, mit ihren Anliegen ernst genommen zu werden«, sagt Martin Stark, Direktor des Jesuiten-Flüchtingsdienstes Deutschland. Dazu gehöre eine umfassende Beratung über die Chance auf Asyl oder eine Aufenthaltserlaubnis, ein qualifizierter Rechtsbeistand sowie die Absicherung existenzieller Bedürfnisse.

Die Modelle aus Deutschland und Belgien zeigen, wie es gehen kann.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 7. April 2012


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