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Noch "20 Meilen" bis zum Traumziel

Italien ist für viele illegale Einwanderer aus Nordafrika nur Durchgangsstation, doch vor ihnen werden weitere Hürden errichtet

Von Elif Kayi, Ventimiglia *

Seit Jahresbeginn suchen erneut Tausende »Illegale« aus Nordafrika, ihren Traum vom Glück in Europa zu verwirklichen. Ihr erstes – aber nicht ihr eigentliches – Ziel ist Italien. Über den Umgang mit ihnen wird in der EU inzwischen gestritten.

»Zehn Euro, Madame. No Discount!« Ein junger chinesischer Verkäufer versucht eine französische Kundin zum Kauf einer weißen Tasche zu bewegen. Entlang der Küste reihen sich ungezählte kleine Stände aneinander. Für ein paar Euro kann man Schuhe, Klamotten, Küchenutensilien, Handtaschen und anderen Kleinkram erstehen. »Es sind nicht immer die günstigsten Angebote«, seufzt Nora, eine ungarische Concierge, die in Nizza wohnt. »Aber man kommt wegen der Atmosphäre und auch, um mittags eine Pizza zu essen!«

Da die Hauptsprache Französisch zu sein scheint, fällt es schwer zu glauben, dass sich die Szene in Italien abspielt, in der Grenzstadt Ventimiglia, was buchstäblich »20 Meilen« bedeutet. Jahrelang war der Freitagsmarkt von Ventimiglia berühmt. Etliche Franzosen kamen über die Grenze, um gefälschte Markenartikel zu ergattern: Chanel-Taschen, Replay-Jeans und dergleichen. Seit das Internet Vertrieb und Verkauf solcher Waren vereinfacht hat, sind sie allerdings nach und nach von den Marktständen verschwunden.

Tunesier trifft man nur am Bahnhof

Dennoch staut sich der Grenzverkehr freitags schon früh am Morgen. Auf französischer Seite stehen an der Mautstelle Menton, der letzten französischen Stadt, etliche Polizisten. Sie interessieren sich kaum für gefälschte Waren. Dafür mustern sie aufmerksam die Insassen jedes Autos, das aus Italien kommt. Seit Wochen fahndet die französische Polizei nämlich nach illegalen Einwanderern, die versuchen, die Grenze zu überqueren. Nach Informationen des italienischen Innenministeriums waren von Januar bis Anfang Mai rund 23 000 illegale Einwanderer aus Tunesien und 8000 aus Libyen auf der italienischen Insel Lampedusa gelandet. Die meisten mit dem Ziel, nach Frankreich zu gelangen.

Um den Strom aufzuhalten, schloss Italien Anfang April ein Abkommen mit den tunesischen Behörden: Als Gegenleistung für eine dreimonatige Aufenthaltserlaubnis, die den ersten illegalen tunesischen Einwanderern zugestanden wurde, soll Tunis Auswanderungswillige vor ihrer Abreise stoppen. Und »Illegale«, die nach Unterzeichnung des Abkommens nach Italien eingereist sind, müssen zurückgenommen werden.

Auf dem Markt in Ventimiglia findet sich indes keine Spur von tunesischen Migranten. Einige afghanische Straßenhändler sind zu sehen, ein älterer Senegalese blickt vor einigen Holzelefanten, die kaum jemand beachtet, ins Leere. Wer die Nordafrikaner sehen will, der muss zum Bahnhof gehen – 200 Meter vom Markt entfernt.

»Seit etwa einem Monat kommen sie jeden Tag«, erzählt der Kellner des Cafés gegenüber. »Manchmal verbringen einige den ganzen Tag hier. Oft sehen sie trostlos aus.« Italienische Journalisten interviewen eine kleine Gruppe, Passanten fotografieren die Szene. Im Bahnhof selbst wurde ein kleiner Raum mit Plastikstühlen und -tischen als Warteraum eingerichtet. Einige Männer schlafen in Decken auf dem Boden.

Auf dem Bahnsteig versuchen junge Männer, die Anzeigen zu deuten, und werfen ängstliche Blicke um sich. »Fährt dieser Zug nach Nizza?«, fragt einer. Er heißt Sabir, ist 24 Jahre alt und kommt aus Sfax, einer Stadt 270 Kilometer südöstlich von Tunis. Erst seit drei Tagen ist er in Italien. »Gibt es in den Zügen Polizeikontrollen?«, fragt er weiter. Seine Familie hat lange gespart, um ihm die Überfahrt auf einem alten Fischerboot zu bezahlen. »Nach der Ankunft auf Lampedusa bin ich weitergefahren nach Bari, Mailand und Turin. Und erst heute Morgen bin ich in Ventimiglia eingetroffen.«

Sabir zeigt seine Dokumente: ein tunesischer Pass und eine befristete Aufenthaltserlaubnis. Die Frage, wie er sich in so kurzer Zeit eine Aufenthaltsgenehmigung besorgen konnte, obwohl er doch erst nach Unterzeichnung des italienisch-tunesischen Abkommens eingetroffen ist, will er zunächst nicht beantworten. Später gibt er zu, dass er die Dokumente einem Landsmann geklaut hat. »Ich weiß, dass das falsch ist. Aber ich war verzweifelt. Ich habe kein Geld und kenne niemanden in Italien. In Frankreich werde ich die Dokumente sowieso nicht benutzen. Ich brauche sie nur, um über die Grenzen zu kommen.« Sabir weiß offenbar nicht, dass ihn die Straftat mehrere Monate Gefängnis sowie ein mehrjähriges Aufenthaltsverbot kosten könnte.

Das letzte Geld für eine Fahrkarte

Sabirs Reisefreund Ismail ist 28 Jahre alt und kommt auch aus Sfax. Als er in Tunis für die Überfahrt bezahlte, wurde er gebeten, das Steuerrad zu übernehmen. Die Menschenschmuggler selbst fahren wegen der Risiken sehr selten mit, oft verlangen sie von einem der Passagiere, das Boot zu navigieren. »Nach einigen Stunden hat der Motor versagt. Wir sind drei Tage lang getrieben, bis ich ihn halbwegs repariert hatte«, erklärt Ismail. »Bis jetzt weiß ich nicht, wie wir es bis Lampedusa geschafft haben. Ich war sicher, wir würden ertrinken.«

Ismail ist schon drei Wochen in Italien und hat versucht, eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen. Vergeblich. »Ich habe sogar überlegt, einen Arbeitsvertrag zu kaufen, um eine Erlaubnis zu erhalten. Aber ich hatte nicht genug Geld.«

Sabir und Ismail hoffen, mit dem Zug hinüber nach Menton zu gelangen. Von dort wollen sie mit dem Bus weiter nach Nizza fahren. In Bussen würde weniger kontrolliert als in Zügen, heißt es. »Ich habe Verwandte in Nizza, Paris und Angers«, erklärt Sabir mit strahlenden Augen. »Ich bin bereit, überall zu arbeiten. In Sfax, wo ich herkomme, gibt es nichts: keine Arbeit, kein Geld, keine Perspektive.« Am Schalter gibt Sabir seine letzten Münzen aus, um zwei Fahrkarten nach Menton zu kaufen. 2,80 Euro kostet ein Ticket. »Das erste Mal, dass wir in Italien Fahrscheine kaufen«, lacht Sabir, »Ich hoffe, sie bringen uns Glück.«

Als Italiens Regierung die Ausgabe zeitweiliger Aufenthaltsgenehmigungen für illegale tunesische Einwanderer ankündigte, die ihnen auch Reisen in andere EU-Staaten ermöglichen würden, erklärte Frankreichs Innenminister Claude Guéant der Presseagentur AFP, eine Aufenthaltserlaubnis aus einem anderen Schengen-Staat genüge nicht, Migranten bräuchten »Identitätsdokumente und vor allem einen Nachweis über ein finanzielles Einkommen«. Die französischen Beamten, die in den Zügen zwischen Italien und Frankreich und an den Bahnhöfen arbeiten, verlangen daher auch die Vorlage von 62 Euro Bargeld. Das gilt als der durchschnittliche Tagesbedarf eines Touristen in Frankreich.

Samir und Ismail besteigen den Zug. Eine kleine Gruppe wartet noch auf dem Bahnsteig. Aufenthaltsgenehmigungen haben sie, aber nicht die bewussten 62 Euro. »Es ist mein zweiter Versuch. Letztes Mal hat mich die französische Polizei zurückgeschickt, weil ich nicht genug Geld hatte«, erklärt einer. »Wenn ich es diesmal mit dem Zug nicht schaffe, werde ich einfach über die Grenze laufen. So haben's schon viele gemacht.«

Italiens Vertreter Roberto Maroni verlangte im April von seinen EU-Amtskollegen, die Richtlinie 55 aus dem Jahr 2001 zu aktivieren. Während des Balkankonflikts erlassen, garantierte sie Asylsuchenden aus einer Krisenregion vorübergehenden Schutz. Überdies sah sie vor, dass die Asylsuchenden auf die EU-Staaten aufgeteilt werden. Frankreich und Deutschland lehnten den Antrag jedoch ab. Die Tunesier seien Wirtschaftsmigranten, keine politischen Flüchtlinge. Und ein 60-Millionen-Einwohner-Staat wie Italien sollte wohl 20 000 bis 30 000 Einwanderer aufnehmen können. Deutschland habe nach dem Kosovo-Krieg sogar 600 000 Flüchtlinge aufgenommen.

Wohl aber erklärte sich die Mehrheit der 27 EU-Innenminister am Donnerstag (12. Mai) in Brüssel bereit, Grenzkontrollen innerhalb der Union bei starkem »Migrationsdruck« wieder zuzulassen. Angebote, Italien einen Teil jener Flüchtlinge abzunehmen, die seit Jahresanfang aus Nordafrika nach Europa kamen, gab es dagegen nicht.

In Frankreich droht die Abschiebung

Es ist 18 Uhr. Das Rot-Kreuz-Zentrum in einer alten Militärkaserne, etwa fünf Kilometer vom Zentrum Ventimiglias entfernt, schließt seine Pforten. Einige Männer rennen, um noch eingelassen zu werden. Hier erhalten sie ein warmes Essen, können duschen und finden ein Bett zum Schlafen. Am nächsten Tag werden sie wieder zum Bahnhof gehen. Sabir und Ismail sind dann vielleicht schon in Nizza. Vielleicht aber auch im französischen Polizeigewahrsam. Laut »France terre d'asile« werden derzeit täglich 60 bis 70 Tunesier aus Frankreich abgeschoben – die meisten zurück nach Italien.

* Aus: Neues Deutschland, 14. Mai 2011


Migrationspartnerschaft

Von René Heilig **

Ägypten? Ja da war doch was ... Unlängst noch drängten sich unsere Regierenden, um das Entstehen einer neuen, beispielgebenden Zivilgesellschaft jenseits des Mittelmeers zu preisen. Und nun? Deutschland exportiert das Know-how der Stasiunterlagenbehörde. Und versucht, alte Kontakte zu reaktivieren, um einen »neuen« Sicherheitsapparat zu installieren. Dabei wird mit den Erfahrungen gelockt, die man bei der Auflösung der Diktatur im Osten gesammelt hat. Na danke. Statt Selbstüberschätzung wäre Zurückhaltung angebracht – und sei es nur, weil die Kultur der Ägypter ein »paar« Jahre mehr auf dem Buckel hat.

Auf anderen Gebieten könnte Deutschland dagegen wirklich helfen. In Ägypten leben viele junge Menschen, die fleißig an anerkannten Hochschulen studiert haben und dennoch keinen Job finden. Was also hindert die nach Ingenieuren und Technikern hungrige und personell rasch alternde deutsche Wirtschaft, ägyptische Fachleute ins Land zu lassen? Zum beiderseitigen Nutzen. Pro Jahr um die 30 000 halten bislang ungehörte Nahost-Vordenker für möglich. Die Absolventen könnten sich erproben, Erlerntes in der Praxis überprüfen. Nach fünf oder zehn Jahren wären sie fit, um in der Heimat für den »Aufschwung Nahost« zu sorgen.

Zu erwarten sind die üblichen migrationsfeindlichen Einwände. Man wird versuchen, mit der absurden Angst vor »Wirtschaftsflüchtlingen« zu punkten. Die wäre komplett gegenstandslos, wenn man in den Arbeitsverträgen einen Passus über zu gewährende Kleinkredite unterbringt, mit denen man den ägyptischen Kollegen und künftigen Handelspartnern einen gesicherten Start in der Wirtschaft ihres Landes ermöglicht.

** Aus: Neues Deutschland, 14. Mai 2011 (Kommentar)


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