Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Wachhundreflexe

Von Gabi Zimmer *

Europäer haben Afrikanern schon viel versprochen. Über Jahrhunderte. Beim letzten großen EU-Afrika-Gipfel vor 20 Monaten drehte sich ein großer Teil dieser Versprechen um das Thema Migration. Gemeinsame Politikansätze sollten entwickelt und ein Aktionsplan beschlossen werden, um unter anderem neue Wege der legalen Migration zu erschließen.

Doch im Haushaltsentwurf für 2010, der jetzt von Rat und Kommission dem Europaparlament zur Beratung vorgelegt wurde, reduziert sich der Ideenreichtum Europas zum Thema Migration auf nur einen Begriff: Repression. Die EU-Kommission hob zuvor besonders hervor: »Die größte Mittelaufstockung ist für die Projekte zur Bekämpfung von Kriminalität, Terrorismus und Steuerung der Migrationsströme vorgesehen, wo die veranschlagten Ausgaben um 13,5 % auf knapp 1 Mrd. EUR erhöht wurden.«

Schon die Verbindung dieser Begriffe ist bezeichnend. In diesem Paket ist auch ein relativ hoher Betrag für Libyen enthalten. Dem Beispiel Berlusconi-Italiens folgend wünschen sich die EU-Innenminister von Gaddafi, dass er Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Europa bereits weit vor den Grenzen der EU aufspürt und interniert. Flüchtlings- und Asylrechte, die die EU und ihre Mitgliedstaaten gewähren, werden erst dann einklagbar, wenn die Flüchtlinge EU-Territorium erreicht haben. Libyen hingegen verfügt nicht einmal über eine Asylgesetzgebung.

Wie die »Steuerung der Migrationsströme« in der Praxis aussehen wird, demonstrierte die italienische Regierung bereits mehrfach, als sie Flüchtlinge, die zuvor aus Seenot gerettet worden waren, ohne Prüfung ihres Schutzbedarfs kurzerhand nach Libyen abschob. Das Flüchtlingskommissariat der UNO äußerte sich »tief besorgt« über diese Missachtung internationaler Konventionen.

2008 stellten 75 Prozent der etwa 30 000 Flüchtlinge, die Italien erreichten, einen Asylantrag. Der Hälfte von ihnen wurde ein Recht auf eine von mehreren Arten internationalen Schutzes zuerkannt. Viele kommen als Hoffnungsträger ihrer Familien. Die Überweisungen aus der Diaspora in die Heimatländer übertreffen die Summe der weltweit geleisteten Entwicklungshilfe um das Dreifache. Gleichzeitig besteht durch die Überalterung der Gesellschaften in der EU ein ganz erheblicher Zuwandererbedarf.

Klingt wie eine klare win-win-Situation für beide Seiten. Die Afrikanische Union schlug vor, eine geregelte legale Migration zwischen beiden Kontinenten aufzubauen. Rückkehr- und Wiedereinreisemöglichkeiten sollten eine »brain circulation« ermöglichen, Migranten eine Kultur- und Verständigungsbrücke darstellen und die Diaspora in die Planung von Entwicklungskooperation einbezogen werden. Den Innenministern schwebt hingegen eine höchst selektive Einreise von benötigten Fachkräften auf befristete Zeit vor.

Es ist schizophren: Während auf der einen Seite Rahmengesetze für Schutzrechte von Flüchtlingen eingeführt wurden, setzten die Innenminister europäische Abschiebegesetze durch. Ein dem Rat vorliegender Entwurf für den Opferschutz verschleppter Menschen wird konterkariert durch über FRONTEX organisierte Sammelabschiebungen. Während für Entwicklungspolitiker Migration ein Kooperations- und Friedenspotenzial darstellt, Justizminister über den Schutz von Menschenrechten nachdenken, handeln Innenminister offenbar mit Wachhundreflex. Die Errichtung von Internierungslagern in der libyschen Wüste ist schon im Ansatz ein Verstoß gegen alles, was Europäer gern so stolz als ihre Werte bezeichnen.

* Gabi Zimmer, DIE LINKE, ist Mitglied des europäischen Parlaments.

Aus: Neues Deutschland, 4. September 2009 (Rubrik: "Brüsseler Spitzen")



Zurück zur Seite "Migration, Flucht und Vertreibung"

Zur EU-Europa-Seite

Zurück zur Homepage