Wo man mit Menschen umgeht wie mit Apfelsinenkisten
Das in der EU geltende Flüchtlingsrecht verursacht weiterhin unermessliches Leid, obwohl selbst Gerichte es unmenschlich finden
Von Thomas Blum *
Gestern fand ein Aktionstag gegen die
Dublin-II-Verordnung statt, die
Flüchtlinge dazu zwingt, Asyl in dem
Staat zu beantragen, in den sie zuerst
eingereist sind. An deutschen Flughäfen
wurde protestiert.
Der Genuss eines Schluckes Bier
kann tödlich sein. Wenn man in
Somalia lebt, einem Land, in dem
bereits seit Jahren ein Bürgerkrieg
wütet und das von einer islamistischen
Miliz terrorisiert wird. Wer
raucht oder beim Trinken eines
Bieres gesehen wird, muss mit
schwerster körperlicher Züchtigung
rechnen, auch mit dem Tod.
Hassan Nour Ali, 41 Jahre alt, ein
eingeschüchtert dreinblickender
Somali, dem es vergangenes Jahr
gelang, nach Deutschland zu kommen,
erzählt in gebrochenem
Englisch seine Fluchtgeschichte:
»Sie brachten meine Familie um
und haben uns alles genommen,
was wir besaßen.« Er selbst wurde
misshandelt und gefoltert, weil
man Bier bei ihm fand. Nach einer
Odyssee durch die Wüste kam er
nach Libyen, um dort zu erfahren,
wie man mit ungebetenen Leuten
wie ihm umgeht: »Wenn du ein
wenig Geld hast, überlebst du im
Gefängnis. Ohne Geld stirbst du
dort.« Auch als ihm die Flucht
übers Meer nach Malta gelang,
landete er in Haft. »Aber ich bin
doch gar kein Krimineller«, sagt
Nour Ali. Derzeit lebt er in einem
Brandenburger Flüchtlingslager.
Eine Duldung hat er nicht. Jederzeit
kann er wieder nach Malta
abgeschoben werden. Ob er
Freunde in einem anderen EUStaat
hat, spielt keine Rolle.
Denn in Europa gilt für Flüchtlinge
die sogenannte Dublin-II-Verordnung.
Der Sinn dieser gesetzlichen
Regelung besteht offenbar
einzig und allein darin, es europäischen
Zentralstaaten wie
Deutschland zu ermöglichen, das
Flüchtlingselend fernzuhalten und
die Verantwortung für asylsuchende
Menschen den ärmeren
Staaten an den europäischen Außengrenzen
aufzubürden. Diese
Staaten haben jedoch oft kein
funktionierendes Asylsystem und
sind schon mit der Unterbringung
der ankommenden Menschen völlig
überfordert. Selbst der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte
hat im Januar letzten
Jahres dieses groteske System als
unmenschlich bezeichnet.
2902 Flüchtlinge wurden im
letzten Jahr im Rahmen dieses
Verfahrens aus Deutschland in
andere EU-Staaten wie etwa Griechenland
oder Malta abgeschoben,
in denen die Menschen grundlos
interniert, ihre Rechte ignoriert
werden. 380 der Abgeschobenen
waren minderjährig.
»Die Menschen werden wie
Apfelsinenkisten hin- und hergeschickt.
Es werden ihnen auch
keinerlei Rechtsmittel gewährt«,
sagt Harald Glöde von der Menschenrechtsorganisation
Borderline Europe verärgert. Viele Asylsuchende,
die aus Bürgerkriegsländern
wie Afghanistan, Somalia
oder Eritrea kämen, seien »psychisch
schwer angeschlagen und
traumatisiert«. Am Ende fänden
sich viele mittellos in einem
Flüchtlingslager an der Peripherie
Europas, wo sie wie Kriminelle
behandelt werden und »in dem sie
vegetieren und noch kränker werden
«, so Göde.
Gestern (30. März) protestierten aus Anlass
eines bundesweiten Aktionstages
gegen die sogenannte Dublin-
II-Verordnung antirassistische
Gruppen und Menschenrechtsverbände
an fünf großen deutschen
Flughäfen. Die Aktionen waren für
den späten Nachmittag vorgesehen.
Am Flughafen Berlin-Tegel,
wo beispielsweise die Unternehmen
Lufthansa und Air Berlin an
solchen innereuropäischen Abschiebungen
beteiligt sind, wolle
man versuchen, »der Öffentlichkeit
klarzumachen, dass es viele Menschen
gibt, die nur deshalb hinter
Gittern sitzen, weil sie nach Europa
gekommen sind«, sagt Lothar
Steiner vom »Aktionsbündnis gegen
Dublin II«.
Glöde nennt die Dublin-II-Verordnung,
mit deren Hilfe Flüchtlinge
von den »kerneuropäischen«
bzw. reichen Ländern Deutschland
und Frankreich ferngehalten werden,
ein »bürokratisches Monstrum
«. Es sei für einen Flüchtling,
dessen Leben bedroht ist, heute
»unmöglich, auf legalem Weg in
die Kernstaaten Europas zu kom-
Noch in Frankfurt, aber vermutlich nicht mehr lange. Foto: dpa/Rumpenhorst men«.
* Aus: neues deutschland, 31. März 2012
Tausende deportiert **
Bündnis von Flüchtlingsinitiativen startet Kampagne gegen Abschiebungen innerhalb der EU. BRD profitiert und schickt Betroffene in »Ersteinreiseländer« zurück
Von Jana Frielinghaus **
Wie Frachtgut würden Flüchtlinge zwischen den EU-Ländern hin- und hergeschickt, ohne jede Rücksicht auf deren Pläne und Bedürfnisse, sagt Lothar Steiner vom »Aktionsbündnis gegen Dublin II«. Die in dem Zusammenschluß vertretenen Organisationen informierten am Freitag in Berlin über eine neue Kampagne, mit der sie gegen diese Zustände öffentlichen Druck erzeugen wollen. Medienvertreter und Bürger sollten am späten Nachmittag mit Kundgebungen an fünf deutschen Flughäfen – Hamburg, Frankfurt, München, Berlin-Tegel und Düsseldorf – auf die tausendfachen Menschenrechtsverletzungen durch die EU-Abschottungspolitik gegen Migranten aufmerksam gemacht werden.
Harald Glöde von »Borderline Europe« erhofft sich davon eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse etwa im Europäischen Parlament. Zwar seien die Aussichten gering, daß das Bündnis sein erklärtes Ziel »Dublin II kippen« tatsächlich kurzfristig erreicht, doch eine graduelle Verbesserung der Lage der Flüchtlinge hält er für möglich. Wenn man die Menschenrechte »so hoch hängt« wie die EU, müsse man sich an den eigenen Ansprüchen an andere messen lassen, betonte Glöde. Mit seiner Asylpolitik mache sich Europa »sehr unglaubwürdig«.
Die Bundesrepublik gehört im EU-Asylsystem zu jenen Ländern, die davon maßgeblich profitieren, während die Staaten Süd- und Osteuropas, in denen die meisten Flüchtlinge ankommen, auf eine gerechtere »Lastenverteilung« dringen. Der Umgang mit Asylsuchenden ist in der sogenannten Dublin-II-Verordnung geregelt, die zum Synonym für unmenschliche Behandlung und brutale Zurückweisung von Flüchtlingen geworden ist. Das 2003 verabschiedete Regelwerk legt fest, daß ein Mensch, der etwa aus Afghanistan oder dem Irak nach Europa kommt, nur in dem EU-Mitgliedsstaat Asyl beantragen darf, in dem er zuerst eingereist ist, ohne Rücksicht darauf, ob beispielsweise Angehörige (mit Ausnahme des Ehepartners und minderjähriger Kinder), Freunde oder Bekannte bereits in einem anderen Land leben. Die BRD-Behörden prüfen deshalb bei jedem registrierten Neuankömmling zuerst, ob seine Fingerabdrücke bereits in der EU-Flüchtlingsdatei EURODAC erfaßt sind. Wenn es einen »Treffer« gibt, wird umgehend ein Übernahmeersuchen an den »Ersteinreisestaat« gestellt. 2011 gab es, wie die Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage hin mitteilte, mehr als 9000 solcher Ersuchen, 2900 Menschen wurden anschließend in Länder wie Italien, Malta, Spanien, Polen oder die Slowakei zurückgeschickt.
Unter welchen Bedingungen die Betroffenen etwa in Italien, Ungarn und Malta leben müssen, haben Organisationen wie Pro Asyl in aufwendigen Recherchen dokumentiert (siehe dazu u.a. jW vom 19.3.). Sie sind offenbar ein solcher Alptraum, daß Hassan Nour Ali aus Somalia sagt: »Lieber gehe ich zurück nach Mogadischu als noch einmal nach Malta«. Auf der Pressekonferenz des Aktionsbündnisses schilderte er seine seit 2006 währende Odyssee über Äthiopien, den Sudan, Libyen und das Mittelmeer nach Europa. Nachdem er in Malta aus einem Abschiebeknast in die Obdachlosigkeit entlassen worden war, flüchtete er nach Deutschland. Von hier aus sollte er wieder an den Inselstaat überstellt werden. Psychologen bescheinigten ihm, schwer traumatisiert zu sein, aber bislang verfügt er nicht einmal über den Status der sogenannten Duldung. In Mogadischu hatte er mit Vater und Bruder einen Getränkehandel betrieben. Weil hier auch Alkoholisches verkauft wurde, so Nour Ali, seien Vater und Bruder von Islamisten ermordet worden. Wenig später fielen seine Frau und seine drei Kinder einem Bombenanschlag auf einen Bus zum Opfer.
** Aus: junge Welt, 31. März 2012
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