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Ist das Leben von Flüchtlingen wertlos?

Neue Tragödie vor Italiens Küsten

Von Anna Maldini, Rom *

75 Menschen sterben irgendwo zwischen Libyen, Malta und Italien – und alle sehen weg. Die neue Flüchtlingstragödie im Mittelmeer stößt nur auf Gleichgültigkeit. Der italienische Innenminister zieht die Aussagen der fünf Überlebenden sogar in Zweifel. »Sie sahen wie Skelette, wie Gespenster aus«, erzählen die Helfer, die die fünf Überlebenden zuerst auf der italienischen Insel Lampedusa betreut haben. Ihre Geschichte ist furchtbar: Drei Wochen trieben sie hilflos auf einem Schlauchboot herum, während Benzin, Lebensmittel und auch Wasser immer weniger wurden und schließlich ganz ausgingen. 75 Flüchtlinge – die meisten aus Eritrea, einige aus Äthiopien – haben diese Fahrt, die sie in die Freiheit bringen sollen, nicht überlebt und wurden von ihren Leidensgefährten nach und nach tot ins Meer geworfen. Aber das ist noch nicht alles: »Wir sind mindestens zehn Schiffen begegnet, und keiner hat etwas für unsere Rettung unternommen«, erzählen die Überlebenden. »Nur ein Fischer hat uns irgendwann etwas Brot und ein paar Flaschen Wasser rübergeworfen.«

Der italienische Innenminister Roberto Maroni, der sich den Kampf gegen die Flüchtlinge auf seine Fahne geschrieben hat, weigert sich, über das Geschehene im Parlament zu berichten. »Unserer Meinung nach sind diese Flüchtlinge nicht glaubwürdig«, erklärte eine Sprecherin des Ministeriums. »Sie sahen nicht so aus, als wären sie so lange hilflos auf dem Meer herumgetrieben.« Wenn man bedenkt, dass Ministerpräsident Silvio Berlusconi kürzlich erklärte, dass »diese Leute« nicht nach Italien kämen, weil sie in Not sind, sondern »um Verbrechen zu begehen«, ist so eine menschenverachtende Erklärung nicht weiter verwunderlich. Die Haltung der italienischen Regierung änderte sich auch nicht, nachdem die Behörden aus Malta erklärten, sie hätten in den vergangenen Tagen sieben Leichen im Meer gesichtet. Man habe sie aber nicht geborgen – weil sie sich »in libyschen Gewässern« befanden.

Ganz anders die Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen. Christopher Hein vom italienischen Flüchtlingsrat CIR: »Wenn wir davon ausgehen, dass die Meerenge zwischen Italien und Libyen total überwacht wird, dann müssen wir uns fragen, wie es möglich ist, dass ein Schlauchboot von zwölf Metern sich dort so lange aufhalten konnte, ohne dass das jemand gemerkt hat. Das heißt, man überließ es einfach seinem Schicksal«. Carlotta Bellini von der Hilfsorganisation Save the Children spricht von »unerträglicher Gleichgültigkeit gegenüber den Migranten, selbst wenn sie sich in größter Not befinden«. Und Laura Boldini vom UNO-Flüchtlingshilfswerk UNCHR ist der Ansicht, dass man so eine klare Botschaft aussenden wollte: »Das Leben der Flüchtlinge ist wertlos.«

Noch härter wird die neue Flüchtlingstragödie im Mittelmeer vom Publikationsorgan der italienischen Bischofskonferenz »Avvenire« kommentiert: »Der Westen hat die Augen verschlossen, wollte das Boot der Schiffbrüchigen einfach nicht sehen. Genauso wie damals, als die Juden in Viehwagons quer durch Europa in die Vernichtungslager transportiert wurden.«

* Aus: Neues Deutschland, 22. August 2009


Seenot vor Lesbos

Proteste auf griechischer Insel gegen EU-Migrationspolitik. Außengrenzen Europas sind "längst zum Massengrab" geworden

Von Christian Jakob, Athen **


Schauplatz Lesbos: Auf der griechischen Insel, die nur zehn Kilometer vor dem türkischen Festland liegt, beginnt am Dienstag (25. Aug.) ein internationales Protestcamp. Mit ihm wollen antirassistische Organisationen auf die »humanitäre Katastrophe« aufmerksam machen, die sich in der Ägäis und in Internierungslagern der Athener Grenzpolizei abspielt. Für das »Lesbos-Camp«, das bis zum 30. August dauern soll, wurde europaweit mobilisiert. Auch afrikanische Flüchtlingsorganisationen sind beteiligt. Geplant sind unter anderem »direkte Aktionen« gegen das Vorgehen der griechischen Küstenwache und die Zustände im Lager Pagani.

In den vergangenen Jahren haben die südeuropäischen Küstenwachen und die EU-Grenzschutzagentur Frontex ihre Abwehrmaßnahmen massiv aufgestockt. Die Folgen sind fatal: 8114 Tote im Mittelmeer und Atlantischen Ozean zählte ProAsyl in dem Aufruf für die Kampagne »Stoppt das Sterben«. Die Außengrenzen Europas seien für Flüchtlinge »längst zum Massengrab geworden«, so die Flüchtlingshilfsorganisation. Mit »massiver Aufrüstung und Abschreckung, Demütigungen, Mißhandlungen bis hin zu illegalen Zurückweisungen« gingen die Küstenwachen und Frontex gegen Migranten vor.

Das Hauptaugenmerk galt in den vergangenen Jahren vor allem den Kanarischen Inseln, der Straße von Gibraltar und dem Seegebiet zwischen Libyen, Tunesien, Malta und Italien. Viele Asylsuchende setzten deshalb ihre Hoffnungen auf eine Einreise nach Europa lange auf die Meerenge zwischen der türkischen Westküste und Griechenland. Nicht nur Flüchtlinge aus dem Mittleren Osten, sondern zunehmend auch solche aus Afrika versuchen über die Ägäis, das Schengen-Gebiet zu erreichen.

Im Rahmen des Frontex-Einsatzes POSEIDON verstärken Griechenland und die EU nun ihre Anstrengungen, auch diese Region abzuschotten – mit fatalen Folgen für die Flüchtlinge, wie die Organisatoren des »NoBorder«-Camps beklagen. Die griechische Hafenpolizei und die mit ihnen arbeitenden Frontex-Einheiten drängen die Boote mit Flüchtlingen immer wieder zurück in Richtung Türkei. Dabei werde billigend in Kauf genommen, daß die Boote in Seenot geraten. Immer wieder würden Flüchtlinge deshalb ertrinken, sagt Marily Stroux von »kein mensch ist illegal« aus Hamburg. Teilweise würden die Grenzschützer den Migranten gar alle ihre Habseligkeiten abnehmen, bevor sie sie in internationale Gewässer zurückschicken.

Diejenigen, die Griechenland erreichen, sind alles andere als in Sicherheit. Menschen ohne Papiere werden oft unter katastrophalen Bedingungen in geschlossenen Internierungslagern untergebracht. Eines davon befindet sich in Pagani auf Lesbos. Am Donnerstag besuchte eine Delegation der Campvorbereitungsgruppe das Lager. »Gegen geltendes griechisches Gesetz werden dort Minderjährige teilweise seit über hundert Tagen festgehalten«, sagt Bernd Kasparek von der »Karawane für die Rechte der Flüchtlinge« aus München. Pagani sei für 300 Menschen ausgelegt, die Polizei halte dort aber über 800 Flüchtlinge fest, davon 280 Minderjährige sowie Familien mit Babies und schwangere Frauen.

Hundert Personen seien gezwungen, sich eine Toilette zu teilen. Es mangele an Betten, so daß viele Personen auf dem Boden schlafen müßten. Im Sommer sei die Temperatur im Gebäude sehr hoch, den Gefangenen werde nur selten erlaubt, sich im Hof aufzuhalten. Auch die medizinische Versorgung ist miserabel. 160 minderjährige Flüchtlinge, die zusammen in einem Raum leben mußten, sind am 18. August in einen Hungerstreik getreten.

»Es ist unvorstellbar, was sich hier mitten in der EU abseits jeglicher öffentlicher Aufmerksamkeit abspielt«, sagt Anne Morell von »kein mensch ist illegal«. Vor kurzem hätten Frontex-Mitarbeiter begonnen, die Insassen von Pagani zu verhören, um Erkenntnisse über die Fluchtrouten zu erlangen.

Mit den sogenannten Grenzcamps versuchen antirassistische Initiativen seit Ende der neunziger Jahre, auf neuralgische Punkt im europäischen Grenzregime aufmerksam zu machen und an diesen Orten mit Protestaktionen lokale Inititiaven zu stärken. Die Camps gab es vor dem polnischen EU-Beitritt an der Oder-Neiße-Grenze, im südspanischen Tarifa, der Ukraine oder am Frankfurter Flughafen.

** Aus: junge Welt, 24. August 2009


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