Flüchtlingspolitik mit tödlichen Folgen
Antirassistische Initiative legt 18. Auflage ihrer Dokumentation zu staatlichem Rassismus vor
Von Ulla Jelpke *
Diskriminierung, Ausgrenzung, Kriminalisierung, Traumatisierung und das Elend von Flüchtlingen in der Bundesrepublik setzten sich im Jahr 2010 unverändert fort. Das beklagt die Antirassistische Initiative (ARI) in Berlin in ihrer mittlerweile im 18. Jahr erscheinenden Dokumentation »Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen«. Die 1993 begonnene und im Internet einsehbare Aufzählung dokumentiert über 6000 Einzelschicksale von Menschen, die in der Bundesrepublik aufgrund staatlicher Maßnahmen oder durch rassistische Übergriffe körperlich zu Schaden oder zu Tode kamen.
Nur 21,6 Prozent der Asylbewerber erhielten im vergangenen Jahr einen Schutzstatus in Deutschland, das sind 12,2 Prozentpunkte weniger als im Vorjahr. Im gleichen Zeitraum hat sich die Zahl der Asylsuchenden auf 41332 verdoppelt.
Flüchtlinge erhalten Sozialleistungen weit unter dem verfassungsmäßigen Minimum, sie dürfen nicht arbeiten, ihre Bewegungsfreiheit wird durch die Residenzpflicht eingeschränkt, und sie müssen in isolierten Sammellagern unter gesundheitsschädigenden Bedingungen leben. Die andere Seite des »gesetzlich zementierten bundesdeutschen Rassismus« ist für die ARI der »unumstößliche Abschiebewillen der Bundesrepublik«. So würden Asylsuchende mit kurzfristigen Duldungen, angedrohten Abschiebeterminen, Entziehung des Aufenthalts und Kriminalisierung jahrelang unter Druck gesetzt und dadurch traumatisiert. Durch staatliche Maßnahmen der BRD seien seit 1993 mindestens 398 Flüchtlinge ums Leben gekommen. Bei rassistischen Übergriffen und Bränden in Flüchtlingsunterkünften seien 83 Menschen getötet worden. Für das Jahr 2010 listet der Bericht den Tod von vier Menschen auf dem Weg in die BRD, den Selbstmord von weiteren vier Menschen in Abschiebehaft und 21 Suizidversuche auf. Elf Menschen erlitten nach ihrer Abschiebung
Mißhandlungen und Folter.
Der Bericht schildert auch die Einzelschicksale hinter den Zahlen. Ein kongolesischer Abschiebehäftling in Eisenhüttenstadt trinkt Seifenlauge und versucht anschließend, sich zu strangulieren. Erst nach diesem Selbsttötungsversuch kommt er nach 203 Tagen Haft frei. Eine 47jährige schwer kriegstraumatisierte Roma wird nach zwölf Jahren in Deutschland gemeinsam mit ihrem Mann und ihrem 14jährigen Sohn abgeschoben, obwohl ihr ein psychiatrisches Gutachten fehlende Reisefähigkeit bescheinigt. In Kosovo kann sie ihre fachärztliche Behandlung nicht fortsetzen und stirbt nach einem Zusammenbruch an Hirnblutungen. Ein armenischer Flüchtling erhängt sich mit dem Kabel seines Wasserkochers in der Abschiebehaft in Hannover. Nach elf Jahren war der Asylantrag des 58jährigen, der mit seiner Frau aus Aserbaidschan gekommen war, endgültig abgelehnt worden. Aufgrund einer Verwechselung seiner Daten sollte er ohne seine Frau nach Armenien abgeschoben werden. Die armenische Botschaft hatte der Ausländerbehörde mit den falschen Daten einen Paßersatz beschafft. Eine 34jährige Indonesierin erhängt sich in ihrer Zelle in der Hamburger JVA Hahnöfersand aus Angst vor der bevorstehenden Abschiebung in ihr Herkunftsland, in dem sie Verfolgung befürchtet. Während solche Todesfälle oft von der Öffentlichkeit unbemerkt bleiben, demonstrierten in diesem Fall mehrere hundert Menschen unter dem Motto »Es gibt keinen Freitod in Abschiebehaft«.
* Aus: junge Welt, 20. Mai 2011
Aus der Presseerklärung der ARI
ANTIRASSISTISCHE INITIATIVE E.V., 8. Mai 2011
Die Statisik des Bundesinnenministeriums belegt, daß im Jahre 2010 nur 21,6% der hier schutzsuchenden Flüchtlinge einen
Aufenthalt bekommen haben. Damit ist die Quote der Menschen, deren Verfolgung und Notlage in irgendeiner Weise anerkannt
wurden, im Vergleich zum Vorjahr um 12,1% gesunken – obwohl gleichzeitig die Asylerstantragszahl im Jahr 2010 um etwa
50% auf 41.332 angestiegen ist.
Die Diskriminierung, Ausgrenzung, Kriminalisierung, Traumatisierung und das Elend von Flüchtlingen in der
Bundesrepublik setzte sich auch im Jahre 2010 unverändert fort.
Den Flüchtlingen Sozialleistungen weit unter dem verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimum zu geben, ihnen das
Arbeiten zu verbieten, sie mit Sachleistungen mangelhaft zu versorgen, ihnen medizinische Versorgung zu verweigern, ihre
Bewegungsfreiheit – bei Strafe – einzuschränken und sie über Jahre hinweg zu zwingen, in isolierten Sammellagern unter immer
gesundheitsschädigenden Bedingungen zu leben, das ist das eine Spektrum des gesetzlich zementierten bundesdeutschen
Rassismus.
Die andere Seite ist der unumstößliche Abschiebewillen der Bundesrepublik. Anstatt den Menschen Asyl und Aufenthalt zu
gewähren, werden sie mit kurzfristigen Duldungen, angedrohten Abschiebeterminen, Entziehung des Aufenthaltes und
Kriminalisierungen jahrelang unter Druck gesetzt und dadurch traumatisiert.
Trotz Rücknahme des Vorbehaltes der BRD zur Kinderrechtskonvention werden auch 19 Jahre nach der Ratifizierung immer
noch minderjährige Flüchtlinge in Abschiebehaft genommen, unbegleitete Jugendliche bei der Einreise festgenommen und
wegen "illegalen" Aufenthaltes zu Strafhaft verurteilt und Familien mit Gewalt getrennt. "Die Sozialleistungen für
Flüchtlingskinder liegen um bis zu 54% unter dem Niveau der Hartz-IV-Regelsatz für inländische Kinder. Vergleicht man den
auf lediglich 68 Cent/Tag gekürzten Barbetrag für den persönlichen Bedarf, die soziokulturelle Teilhabe und den Schulbedarf,
dann beträgt die Kürzung für Flüchtlingskinder sogar bis zu 83%." (Georg Classen – Flüchtlingsrat Berlin 1)
Die Dokumentation zeigt in über 6000 Einzelgeschehnissen die Auswirkungen des staatlichen und gesellschaftlichen
Rassismus auf die betroffenen Flüchtlinge. Auf Menschen, die in der BRD Schutz und Sicherheit suchten und aufgrund
der rassistischen Sondergesetze und des Rassismus der Gesellschaft körperlich zu Schaden kamen. Anhand der vielen Einzelbeispiele wird deutlich, mit welcher Gewalt die Sondergesetze für Flüchtlinge von Behörden,
Gerichten, Polizei, medizinischem Personal und anderen umgesetzt werden und mit wieviel Willkür und Menschenverachtung
Flüchtlinge gequält, gedemütigt und sogar zum Suizid oder zu Selbstverletzungen getrieben werden. Erpressung, Schikanen und
Betrug, aber auch Sippenhaftung, Familientrennungen oder Inhaftierung Minderjähriger sind einige Mittel des Staates und
seiner willfährigen MitarbeiterInnen, um Flüchtlinge zur Ausreise zu zwingen.
Hier geht es zur ganzen Dokumentation: "Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen" [externer Link]
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