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Bravo! Freispruch für Ex-Cap-Anamur-Chef Bierdel

pro asyl: Auf die Anklagebank gehört jetzt die "menschenverachtende Flüchtlingspolitik der Regierung Berlusconi"

Der Fall viel Publizität erhalten - und hat das auch verdient. Dass die Anklage kläglich zusammengebrochen ist, gehört zu den Glücksfällen in Italien. Um die Justiz im Berlusconi-Land ist es nämlich nicht immer gut bestellt.
Im Folgenden die Meldung über den Freispruch sowie einen Hintergrundartikel und einen Kommentar zu dem Vorgang.



Agrigento (Italien): Alle drei Angeklagten freigesprochen *

Im Prozess gegen Verantwortliche der Hilfsorganisation Cap Anamur wegen Beihilfe zur illegalen Einreise nach Italien sind alle drei Angeklagten freigesprochen worden. Ein sizilianisches Gericht sprach den früheren Cap-Anamur-Vorsitzenden Elias Bierdel und zwei Mitarbeiter nach einem fast dreijährigen Verfahren frei. Zahlreiche Persönlichkeiten und Organisationen begrüßten den Freispruch.

Das Gericht in Agrigent sprach auch den früheren Kapitän des Schiffs "Cap Anamur", Stefan Schmidt, und den damaligen Ersten Offizier, Wladimir Daschkewitsch, frei. Bierdel sagte anschließend, er könne "erst von Erfolg sprechen", wenn die Urteilsbegründung klarstelle, "dass unser Handeln rechtens war" und Kapitäne wieder Mut fassen könnten, Flüchtlinge in Seenot zu retten. Schmidt äußerte die Hoffnung, dass der Freispruch ein Signal dafür sein werde, dass "uralte Gesetze der Seefahrt - Hilfe in Seenot zu leisten - wieder gültig" seien. Dies gelte auch für einen Fall tunesischer Fischer, in deren Verfahren die Urteilsverkündung noch aussteht.

Die italienische Staatsanwaltschaft hatte in dem Prozess wegen angeblicher "bandenmäßiger Schleuserei" je vier Jahre Gefängnis und eine Geldstrafe von 400.000 Euro für Bierdel und den Kapitän gefordert sowie Freispruch für den Ersten Offizier. Die drei Angeklagten hatten im Juni 2004 im Mittelmeer 37 afrikanische Flüchtlinge aus einem überfüllten Schlauchbott gerettet, das zu sinken drohte.

Italien hatte der "Cap Anamur" drei Wochen lang die Einfahrt in einen sizilianischen Hafen mit der Begründung verwehrt, die Flüchtlinge müssten nach Malta gebracht werden. Schließlich durften sie im sizilianischen Hafen Empedocle doch noch an Land gehen. Das Flüchtlingsdrama hatte weltweit Schlagzeilen gemacht.

Cap-Anamur-Gründer Rupert Neudeck, sagte, alles andere als ein Freispruch wäre eine "Katastrophe für das europäische Justizsystem" gewesen. Bei der Flüchtlingshilfeorganisation Pro Asyl hieß es, auf die Anklagebank gehöre die "menschenverachtende Flüchtlingspolitik der Regierung Berlusconi". Auch die Internationale Liga für Menschenrechte, die Kapitän Schmidt am 13. Dezember in Berlin die Carl-von-Ossietzky-Medaille verleiht, begrüßte den Freispruch für die "Lebensretter". Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) erklärte, es bleibe Bierdels Verdienst, auf das Flüchtlingselend an den Toren Europas aufmerksam gemacht zu haben.

Quelle: Nachrichtenagenturen, 7. Oktober 2009


Absurder Prozess neigt sich dem Ende zu

Heute Verkündung des Urteils im Verfahren gegen »Cap Anamur« - NGOs machen mobil und fordern Freispruch

Von Aert van Riel **

»Humanitäre Hilfe ist kein Verbrechen!« Unter diesem Motto demonstrierten am Dienstag (6. Okt.) NGOs für Freispruch im Prozess wegen angeblicher »Beihilfe zur illegalen Einwanderung« gegen Elias Bierdel und Stefan Schmidt im italienischen Agrigento. Das Urteil wird heute erwartet. Schmidt und Bierdel hatten vor fünf Jahren mit ihrem Schiff Cap Anamur afrikanische Flüchtlinge gerettet und nach Sizilien gebracht.

Das Mittelmeer ist zu einem Massengrab für afrikanische Flüchtlinge geworden. Die Migranten flüchten vor Dürren oder Bürgerkriegen. In der EU wollen sie ihr Recht auf Asyl wahrnehmen. Viele erreichen ihr Ziel nicht und ertrinken beim Versuch der Überfahrt.

Wer ihr Leben rettet, dem droht ein juristisches Verfahren. So auch den ehemaligen Verantwortlichen des Schiffes Cap Anamur. Der damalige Geschäftsführer Elias Bierdel und Kapitän Stefan Schmidt retteten im Sommer 2004 37 Afrikaner aus Seenot. Nach tagelangem Tauziehen mit italienischen Behörden, gelang es ihnen, die Migranten nach Sizilien zu bringen. Die Afrikaner wurden nach kurzer Zeit abgeschoben, Bierdel und Schmidt für ihre Humanität juristisch verfolgt. In Italien läuft seit November 2006 ein Verfahren gegen sie. Der Vorwurf lautet »Beihilfe zur illegalen Einreise«, also gewerbsmäßige Schlepperei. Den Aktivisten sei es darum gegangen, mit der medienwirksamen Rettungsaktion, durch Verkauf von Fernsehbildern, Geld zu verdienen, so die italienische Staatsanwaltschaft. Sie fordert vier Jahre Haft und eine Geldstrafe in Höhe von je 400 000 Euro.

Am Dienstag (6. Okt.) protestierten NGOs gegen den Prozess und forderten Freispruch. Pro Asyl hatte zu Kundgebung und Mahnwache unter dem Motto »Humanitäre Hilfe ist kein Verbrechen!« vor dem italienischen Generalkonsulat in Frankfurt am Main aufgerufen. Es wurden symbolisch für die geretteten Menschenleben 37 Rettungsringe ausgelegt. Eine Delegation aus Lübecker Flüchtlingsorganisationen, Menschenrechtsverbänden und Kirchen war zur Urteilsverkündung nach Italien gereist. »Wir werden am Dienstagabend dem Präfekten der Stadt Agrigento auf Sizilien eine Resolution der Hansestadt Lübeck überreichen, in der auf Freispruch plädiert wird«, erklärt Heike Behrens vom Lübecker Flüchtlingsforum.

Es ist zu befürchten, dass an Bierdel und Schmidt ein Exempel statuiert wird: Seefahrer sollen gegen ihre Pflicht, Schiffsbrüchigen Hilfe zu leisten, verstoßen. Der langwierige Prozess und die zwischenzeitliche Beschlagnahmung des Schiffes haben ein deutliches Zeichen gesetzt. »Wir haben Informationen, dass Reedereien ihren Kapitänen Anweisungen geben, wegzusehen, wenn man in Seenot geratenen Flüchtlingen begegnet«, berichtet Behrens.

Die Cap Anamur ist kein Einzelfall. Auch sieben tunesische Fischer, die im August 2007 afrikanischen Flüchtlingen halfen und auf die italienische Insel Lampedusa brachten, stehen in Agrigento vor Gericht. Sie erwarten ihr Urteil voraussichtlich am 12. Oktober.

Bierdel und Schmidt wurden in Deutschland für ihre Rettung geehrt. Bierdel erhielt den Georg-Elser-Preis für Zivilcourage, Schmidt die Carl-von-Ossietzky-Medaille. Doch auch harte Kritik mussten die Aktivisten einstecken. Rupert Neudeck, ehemaliger Chef von Cap Anamur, hatte seinem Nachfolger Bierdel vorgeworfen, ohne Not mit Flüchtlingen auf dem Mittelmeer herumgefahren zu sein, damit Kamerateams an Bord könnten. Bierdel hat die Vorwürfe bestritten. Hilfsorganisationen seien darauf angewiesen, dass über ihre Tätigkeit umfassend berichtet wird. Bierdel wurde 2004 als Chef der Cap Anamur entlassen. Drei Jahre später gründete er gemeinsam mit Schmidt die Organisation »Borderline Europe«, die Flüchtlingsdramen an EU-Grenzen dokumentiert.

** Aus: Neues Deutschland, 7. Oktober 2009

Es begann mit einem Schiff

Vor 30 Jahren wurde die »Cap Anamur« gechartert

Von Fabian Lambeck ***


Die Geschichte der Hilfsorganisation Cap Anamur beginnt im Frühjahr 1979. Damals gründete gründete der Journalist Rupert Neudeck zusammen mit dem erzkonservativen Springer-Kolumnisten Matthias Walden und zahlreichen Prominenten den Verein »Ein Schiff für Vietnam«. Ziel der Organisation war es, den vietnamesischen Bootsflüchtlingen zu helfen, die zu Zehntausenden ihr Land verließen. Die Flüchtlingswelle aus dem kommunistisch regierten Vietnam fand in den westdeutschen Medien natürlich ein großes Echo. So konnte es nicht verwundern, dass innerhalb kürzester Zeit genug Geld zusammen kam, um den Frachter »Cap Anamur« zu chartern und in ein Lazarettschiff umbauen zu lassen. Zwischen 1979 und 1986 kreuzte die »Cap Anamur« vor der vietnamesischen Küste. Mehr als 10 000 Flüchtlinge rettete die Besatzung im Laufe der Zeit und rund 35 000 Vietnamesen wurden an Bord medizinisch versorgt.

Kritiker warfen Neudeck vor, die ständige Präsenz der »Cap Anamur« würde unentschlossene Vietnamesen dazu verleiten, ihr Heil in der gefährlichen Flucht zu suchen, da die Geretteten in Deutschland Asyl erhielten. Wie dem auch sei: Die spektakuläre Rettungsmission brachte dem Verein so viel Publicity, dass er sich seit 1982 »Komitee Cap Anamur/Deutsche Notärzte e.V« nannte. In den folgenden Jahren entwickelte sich das Komitee Cap Anamur zu einem weltweit agierenden Hilfsunternehmen. Egal ob Afghanistan, Eritrea, Kosovo oder Uganda: Die Helfer von Cap Anamur waren stets vor Ort. Der Verein finanziert sich nach wie vor über Spenden. Offenbar so erfolgreich, dass im Februar 2004 eine zweite »Cap Anamur« erworben werden konnte. Doch dem Schiff war das Glück nicht hold: Bereits im Juli desselben Jahres legten es die italienischen Behörden an die Kette. Im Jahre 2005 wurde die »Cap Anamur« wieder verkauft.

*** Aus: Neues Deutschland, 7. Oktober 2009



Siehe auch:
Lebensretter aus Deutschland vor italienischem Gericht
Internationale Liga für Menschenrechte fordert Freispruch! Angeklagter erhält die Carl-von-Ossietzky-Medaille


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