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Residenzpflicht und Suizid

Tausende gingen für die Rechte von Flüchtlingen auf die Straße

Von Fabian Köhler *

Bis zu 5000 Menschen demonstrierten am Samstag in Berlin für einen menschenwürdigen Umgang mit Flüchtlingen. Der seit über einem Monat andauernde Protestmarsch von 50 Asylsuchenden fand damit seinen ebenso lautstarken wie eindrucksvollen Höhepunkt.

Unter dem Motto »Willkommen in Berlin! Für einen menschenwürdigen Aufenthaltsstatus in Deutschland« hatten verschiedene linke Gruppen und Flüchtlingsorganisationen zur Flüchtlings- und Solidaritätsdemo aufgerufen. Begleitet von Trommeln, Trillerpfeifen und Transparenten bewegte sich der Protestmarsch seit dem frühen Samstagnachmittag vom Kreuzberger Oranienplatz in Richtung Regierungsviertel. »Kein Mensch ist illegal, Bleiberecht überall«, »Abschiebungen stoppen« und »Rassismus bekämpfen« prangte von den Plakaten der Protestierenden.

Unterwegs kam es immer wieder zu Solidaritätsbekundungen: In der Oranienstraße zündeten Bewohner eines Hauses bengalische Fackeln, andere Anwohner entrollten Banner oder begleiteten die Demonstration mit Konfettiregen. Mehrere Zwischenkundgebungen standen auf dem Programm, bei denen es um die Situation von Flüchtlingen in Deutschland ging.

»Wir dürfen weder entscheiden, wann wir Wäsche waschen, noch wann wir kochen«, schilderte ein Flüchtling den Alltag der Heimunterbringung. »Ich hoffte, in Deutschland würde ich Freiheit finden«, schilderte der 25-jährige Kurde Mansur stellvertretend für viele andere Asylsuchende seine Erfahrungen. Stattdessen sei er nun mit »Lagerhaltung und Anfeindungen« konfrontiert. Vor vier Jahren sei er aus der Türkei geflüchtet und warte auf die Gewährung von Asyl. Selbst dafür, dass er heute hier demonstriere, könne er verhaftet werden.

Neben dem Ende der Unterbringung von Flüchtlingen in Heimen und einem sofortigen Abschiebestopp gehörte die Abschaffung der Residenzpflicht zu den Hauptforderungen der Demonstranten. Danach dürfen sich Asylsuchende nur in dem Bezirk oder Landkreis der für sie zuständigen Ausländerbehörde aufhalten. Zu einem bewussten Bruch dieses Gesetzes hatten sich am 8. September Asylsuchende entschieden, die nun die Demonstration anführten. Im bayrischen Würzburg waren sie zu einem Protestmarsch quer durch die Republik angetreten. Zuvor hatte sich bereits im März dieses Jahres ein iranischer Flüchtling in der Stadt das Leben genommen. 50 weitere waren aus Protest gegen ihre Unterbringung in einen Hungerstreik getreten. Auf dem über 500 Kilometer langen Fußmarsch riefen die 50 Flüchtlinge und lokale Unterstützer in mehreren Städten zu Kundgebungen auf. Zu einem Zwischenfall kam es in Erfurt, als eine kleine Gruppe Rechtsextremer die Flüchtlinge angriff.

Überwiegend friedlich blieb es hingegen am Samstagabend: Lediglich knapp zehn Vertreter der rechtspopulistischen Gruppierung Pro Deutschland forderten nahe des Reichstages die Verhaftung der Flüchtlinge und provozierten damit lauten Protest. Zu weiteren Auseinandersetzungen oder Provokationen durch die Polizei kam es nicht. »Läuft alles gut heute«, kommentierte ein Sprecher die Sicherheitslage und ungewollt wohl auch die Stimmung der meisten Demonstranten an diesem Abend.

* Aus: neues deutschland, Montag, 15. Oktober 2012


Unerwünscht in Deutschland

Warum werden Flüchtlinge schlecht versorgt?

Von Christian Klemm **


Die Flüchtlingszahlen stellen die Behörden vor Probleme. Dabei sind es verhältnismäßig wenige Asylbewerber, die es in die Bundesrepublik schaffen.

Deutschlands Flüchtlingsunterkünfte kommen an ihre Kapazitätsgrenze. Das zumindest legen Berichte aus den Bundesländern nahe, die in jüngster Vergangenheit bekannt wurden. So le-ben zum Beispiel in der Erstaufnahmestelle für Asylbewerber in Dortmund etwa 1000 Flücht-linge. Ausgelegt ist die Einrichtung für 650 Personen. Gleiches gilt für die Landesaufnahme-stelle in Karlsruhe: Dort sind rund 1100 Schutzsuchende untergebracht. Auch das ist zu viel. Warum platzen diese Unterkünfte aus allen Nähten?

An den hohen Flüchtlingszahlen kann es nicht liegen. Die sind nämlich mehr als überschaubar. So wurden laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) von Januar bis September dieses Jahres 40 201 Erstanträge auf Asyl gestellt. Auch im gesamten Jahr davor hielt sich die Zahl der Erstanträge mit 45 741 in Grenzen. Zum Vergleich: 1995 wurden nach BAMF-Angaben 166 951 Asylanträge gestellt, davon waren 127 937 Erstanträge. Und auch das sind verhältnismäßig moderate Zahlen, wenn man sich an den Anfang der 1990er Jahre erinnert. Damals zwangen Kriege auf dem Balkan Hunderttausende, ihre Heimat in Richtung Bundesrepublik zu verlassen. Die Folge: Das Asylrecht in Deutschland wurde stark einge-schränkt.

Die Politik müsste eigentlich in der Lage sein, die Schutzsuchenden unterzubringen und zu versorgen. Doch scheinbar fehlt der Wille, dies auch zu tun. In den Jahren sinkender Asylzah-len haben viele Kommunen ihre Flüchtlingsheime geschlossen. Seit 2008 steigt die Zahl der-jenigen wieder an, die in Deutschland Schutz suchen. Logischerweise fehlen jetzt die Kapazi-täten, sie mit Wohnraum auszustatten. Deshalb werden Flüchtlinge zum Teil in Turnhallen, Containern oder ehemaligen Kasernen mehr schlecht als recht untergebracht.

In den vergangenen Wochen sind insbesondere Menschen aus Syrien, Mazedonien und Serbi-en in die Bundesrepublik geflohen. Aus der arabischen Republik haben im September 745 Personen einen Erstantrag gestellt. Der Grund ist offensichtlich: Seit etwa eineinhalb Jahren tobt in Syrien ein Bürgerkrieg, der bereits Hunderttausende ins Ausland getrieben hat.

Im vergangenen Monat wurden 1040 Asylerstanträge von Mazedoniern gestellt; ein Anstieg um 67,7 Prozent. Und mit 1395 Antragstellern aus Serbien gaben die Behörden fast eine Ver-dreifachung der Antragszahlen im Vergleich zum August bekannt. Die Flucht der Mazedonier und Serben hat andere Gründe als die der Syrer. Denn die Kriege auf dem Balken sind vorbei. Die Mehrheit der Antragsteller gehört der Minderheit der Roma an. Sie werden in ihren Hei-matländern aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit häufig diskriminiert, leben in herunter-gekommen Behausungen, haben kaum Zugang zum Gesundheits- und Bildungssystem, sind mit hoher Arbeitslosigkeit konfrontiert. Dazu kommt, dass der strenge Winter auf dem Balkan vor der Tür steht. Auch das könnte den Anstieg der Flüchtlingszahlen erklären.

Die Anerkennungsquote serbischer und mazedonischer Asylsuchender tendiert gegen null. Aus den Reihen der Union wird deshalb aktuell Stimmung gegen Schutzsuchende aus diesen Ländern gemacht. Eine Forderung ist, ihre Visafreiheit für die Einreise in die Europäische Union aufzuheben.

** Aus: neues deutschland, Montag, 15. Oktober 2012


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