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Unter dem Minimum geht nicht

Karlsruhe ordnet höhere Leistungen für Asylsuchende an

Von Dirk Farke *

Die niedrigen Geldleistungen für Asylbewerber verstoßen gegen das Grundgesetz. Das hat das Bundesverfassungsgericht geurteilt und klargestellt: Die Menschenwürde gilt für alle, auch für Flüchtlinge.

Wenn bereits vier Wochen nach einer mündlichen Verhandlung die Karlsruher Verfassungshüter ihr Urteil verkündigen, müssen schon ganz besondere Gründe, das heißt ein ganz gravierender Verfassungsverstoß vorliegen. Wenn sie darüber hinaus zum härtesten Mittel greifen, das ihnen ihr Richteramt zugesteht, nämlich ein Gesetz auszusetzen und gleichzeitig selbst eine Übergangsregelung zu erlassen, erteilen sie der Bundesregierung damit eine Nachhilfestunde in Sachen verfassungskonformer Gesetzgebung. »Der Senat hat entschieden, dass die Geldleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz das vom Grundgesetz geforderte menschenwürdige Existenzminimum evident verfehlen. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, unverzüglich eine verfassungsgerechte Neuregelung zu treffen«, machte Vizepräsident Ferdinand Kirchhof unmissverständlich deutlich. Politische Erwägungen, die Leistungen niedrig zu halten, um »Wanderungsbewegungen« zu vermeiden, seien nicht zu rechtfertigen: »Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren«, sagte Kirchhof.

Bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung ordnete das Gericht bereits höhere Geldleistungen an. Als Grundlage nehmen die Richter das Regelbedarfsermittlungsgesetz, das nach dem Hartz-IV-Urteil des Zweiten Senats vom Februar 2010 von der schwarz-gelben Bundesregierung aus dem Hut gezaubert worden war, um einen möglichst niedrigen Leistungssatz für Langzeitarbeitslose zu rechtfertigen. Damit hat das Gericht nun klar gestellt, dass sich eine zukünftige Neuregelung zum Leistungsbezug von Asylsuchenden und Flüchtlingen am Hartz-IV-Niveau zu orientieren habe.

Die Leistungen für Asylbewerber liegen inzwischen bis zu 47 Prozent unter der Sozialhilfe beziehungsweise den aktuellen Hartz-IV-Sätzen von 374 Euro für einen Erwachsenen. Die Richter betonten, dass diese Summe nicht ansatzweise ein menschenwürdiges Existenzminimum gewährleisten kann. Dieses Grundrecht aber gilt - und hier geht das gestrige Urteil über die Hartz-IV-Entscheidung hinaus - nicht nur für Deutsche, sondern für alle Personen, ergo auch für Asylbewerber in Deutschland.

Eine »evidente Verfassungswidrigkeit« ergibt sich für die Verfassungshüter ferner daraus, dass der Bedarf für Asylsuchende nie realitätsgerecht ermittelt worden ist. Der Gesetzgeber habe diesen Bedarf lediglich »ins Blaue hinein geschätzt«. Unzureichend sei die Höhe der Geldleistungen, weil sie seit rund 20 Jahren nicht erhöht worden ist, während die Preise seit 1993 um etwa 30 Prozent gestiegen sind.

So ganz am Hartz-IV-Satz wollte sich der Zweite Senat bei der Festlegung der Höhe der Übergangsregelung aber dann doch nicht orientieren. Ein allein lebender, erwachsener Asylbewerber oder Flüchtling erhält nun 336 Euro (Hartz IV: 374 Euro) statt bisher 224. Ein Kind zwischen 15 und 18 Jahren kann nun mit 260 Euro (Hartz IV: 287 Euro) statt der bisher gewährten 200 Euro rechnen. Auch Bundesländer wie Bayern, die vor allem Sachleistungen gewähren, müssen einem erwachsenen Asylbewerber ab sofort 130 Euro monatlich auszahlen, das sind 90 Euro mehr als bisher. Kinder bis sieben Jahre erhalten 104 Euro in bar, alle anderen Haushaltsmitglieder 117 Euro.

Rückwirkend zum 1. Januar 2011 gelten die neuen Sätze für Asylbewerber, deren Leistungsbescheide noch nicht bestandskräftig sind, die also etwa Widerspruch eingelegt haben. Hier sind die Richter in ihrem Urteil nicht konsequent. Wenn man die Höhe der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz von Anfang an für verfassungswidrig hält, müsste man eigentlich den Betroffenen auch für den gesamten Zeitraum, in denen ihnen von verschiedenen Regierungen ein menschenwürdiges Existenzminimum vorenthalten worden ist, eine Entschädigung zubilligen.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 19. Juli 2012

Bisherige Leistungen für Asylbewerber

Asylsuchende, Geduldete sowie andere Ausländer, die sich aus humanitären Gründen vorübergehend in Deutschland aufhalten dürfen, haben bei Bedarf Anspruch auf staatliche Leistungen. Grundlage ist das Asylbewerberleistungsgesetz von 1993.

In Paragraf 3 sind die Grundleistungen für Ernährung, Unterkunft, Heizung, Kleidung, Gesundheits- und Körperpflege sowie Gebrauchs- und Verbrauchsgüter im Haushalt geregelt. Sie können als Sachleistungen zur Verfügung gestellt oder in Form von Wertgutscheinen oder Geld gewährt werden. Die Bundesländer, die darüber selbst entscheiden können, haben dies ganz unterschiedlich geregelt. Zusätzlich gibt es ein monatliches Taschengeld von 41 Euro (bis zum 14. Lebensjahr 20,45 Euro).

Ende 2010 - so die jüngsten Zahlen des Statistischen Bundesamtes - erhielten 130 300 Menschen solche Leistungen. Die Ausgaben für den täglichen Bedarf sowie besondere Leistungen bei Krankheit, Schwangerschaft oder Geburt betrugen 815 Millionen Euro. Die Regelleistungen sind seit 1993 unverändert geblieben. Sie betragen für Volljährige etwa 225 Euro pro Monat, Kinder erhalten je nach Alter Leistungen im Wert von 133 bis 199 Euro monatlich.

(nd, 19.07.2012)




Flüchtlinge bekommen mehr Geld

Bundesverfassungsgericht verwirft Diskriminierung im Asylbewerberleistungsgesetz

Von Ulla Jelpke **


Asylbewerber müssen mehr Geld bekommen. Das Bundesverfassungsgericht hat am Mittwoch die systematische Schlechterstellung von Asylsuchenden, Bürgerkriegsflüchtlingen und Geduldeten für verfassungswidrig erklärt. Die Leistungen, die ihnen das Asylbewerberleistungsgesetz zugesteht, seien »evident unzureichend«, so das Gericht. Das Gesetz legt den Bedarf eines Erwachsenen – so er nicht lediglich Sachleistungen erhält – auf knapp 225 Euro fest. Die Summe wurde trotz eines insgesamt 30prozentigen Anstiegs des Preisniveaus seit 1993 nie erhöht. Der reguläre Hartz-IV-Satz beträgt 374 Euro. Die Verfassungsrichter erklären diese Schlechterbehandlung für unvereinbar mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums.

Zudem betonen sie, daß die Menschenwürdegarantie nicht nur die physische Existenz eines Menschen umfasse, sondern auch »ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben.« Den konkreten Leistungsbedarf pauschal nach dem Aufenthaltsstatus zu differenzieren, sei nicht verfassungskonform. Auch »migrationspolitische Erwägungen«, sprich: die Absicht, Flüchtlinge von der Einreise nach Deutschland abzuschrecken, seien keine Rechtfertigung: »Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren«, heißt es im Urteil.

Die Richter fordern die Bundesregierung auf, »unverzüglich« ein verfassungskonformes Gesetz vorzulegen. Dieses müsse die Leistungen transparent und sachgerecht ausdifferenzieren, anstatt wie bisher auf bloßen Schätzungen zu beruhen. Bis es soweit ist, hat das Gericht eine Übergangsregelung angeordnet. Erwachsene erhalten ab sofort 336 Euro statt den bisherigen 225 Euro, Jugendliche zwischen 15 und 18 bekommen 260 Euro statt wie bislang 200 Euro. Pro Asyl begrüßte in einer Erklärung, daß das Gericht »jahrelanges Unrecht« beendet habe, und forderte wie auch die Linksfraktion die Abschaffung des Gesetzes.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 19. Juli 2012


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