Quo vadis, Arbeiter?
Die binneneuropäischen Migrationsströme nach der Osterweiterung der EU
Von Tomasz Konicz *
Mit dem 1. Mai fallen die Beschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit für die osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten. Darüber, welches Ausmaß und welche Auswirkungen die Arbeitsmigration haben wird, besteht keine Klarheit. Doch selbst wenn etwa die maximalen Schätzungen des polnischen Arbeitgeberverbandes eintreffen sollten und tatsächlich an die 300 000 polnische Arbeitskräfte gen Westen aufbrechen, bildet dieser prognostizierte Migrationsschub nur einen Nachklang der gewaltigen Wanderungsbewegung, die bereits vor Jahren im Gefolge der EU-Osterweiterung einsetzte.
Von den »alten« EU-Staaten öffneten nur Großbritannien, Irland und Schweden 2004 ihre Grenzen für Arbeitsmigranten aus den EU-Beitrittsstaaten. Spanien, Niederlande, Italien folgten kurz darauf. Aufgrund dieser Öffnung der durch ein höheres Lohnniveau charakterisierten westeuropäischen Arbeitsmärkte etablierten sich zwei von Ost nach West verlaufende Migrationsachsen. Bei der nördlichen Wanderungsbewegung gingen polnische und baltische Arbeitskräfte nach Großbritannien und Irland, später auch nach Holland und Skandinavien. Nach dem EU-Beitritt ihrer Länder 2007 wanderten viele Bulgaren und Rumänen gen Italien und Spanien. Nur Deutschland und Österreich nutzen die Übergangsfristen voll aus und öffnen erst jetzt ihre Grenzen.
Die Ausmaße dieser größtenteils an Deutschland vorbeigezogenen Wanderung sind gewaltig. Zu den wichtigsten osteuropäischen Herkunftsländern dieser Wanderarbeiterschaft des 21. Jahrhunderts zählen Polen, Rumänien und Bulgarien. Verschiedenen Schätzungen zufolge sind zwischen 1,5 und 2,3 Millionen Polen gen Westen aufgebrochen. Seit dem EU-Beitritt Rumäniens am 1. Januar 2007 verließen bis zu 1,67 Millionen Arbeitsemigranten das Land. Bulgarien mit seinen 7,6 Millionen Einwohnern kehrten in den beiden Dekaden seit 1989 sogar nahezu zehn Prozent seiner Bevölkerung, 700 000 Menschen, den Rücken. Weitere wichtige Herkunftsländer von Wanderarbeitern bilden die baltischen Staaten. So verließen das 3,3 Millionen Einwohner zählende Litauen allein im vergangenen Jahr an die 75 000 Menschen in Richtung Westen. Die Arbeitsemigration aus Tschechien und Ungarn bewegt sich hingegen im bescheidenen Rahmen.
Die polnische Arbeitsmigration nach Großbritannien erreichte bei Krisenausbruch Ende 2008 ihren Höhepunkt: Gut 550 000 Polinnen und Polen schlugen sich im britischen Niedriglohnsektor auf Baustellen oder mit prekären Gelegenheitsjobs durch. Nach dem Erreichen dieses Höchstwerts fiel die Zahl dieser Tagelöhner in Großbritannien auf 484 000 Anfang 2010, im Herbst 2010 waren es wieder 537 000 offiziell Registrierte. Die polnische Diaspora in Irland zählte Mitte 2010 mehr als 200 000 Menschen, die bis zum Zerplatzen der irischen Immobilienblase ebenfalls überwiegend auf dem Bau tätig waren.
Ähnliche Dimensionen erreichte die südliche Migrationsachse. Schätzungen zufolge sollen zwischen 800 000 und einer Million Rumänen in Italiens Niedriglohnsektor schuften. In Spanien sollen rund 500 000 Rumänen ein Auskommen suchen. Bulgariens Wanderarbeiter verdingen sich ebenfalls vor allem in Spanien, Griechenland und Italien.
Die Ostexpansion der EU setzte ab 2004 also eine gewaltige Migrationswelle in Gang. Millionen von Lohnabhängigen brachen aus der osteuropäischen Peripherie in die Zentren des Westens auf, um dort besser bezahlte Arbeit zu finden. Das Lohngefälle zwischen den westlichen EU-Kernstaaten und den 2004 und 2007 aufgenommenen östlichen Beitrittsländern verlieh der Entwicklung zusätzlichen Auftrieb. Dabei wurden west- und südeuropäische Staaten wie Irland, Italien oder Spanien, die in den 60er oder 70er Jahren als klassische Auswanderungsländer galten, zu Zielregionen der Migrationsbewegung. Erst die Immobilienkrise in Spanien und Irland ließ den Zustrom osteuropäischer Arbeitsemigranten in diese Länder erlahmen. Im Falle Irlands setzte sogar eine Rückreisewelle nach Osten ein.
* Aus: Neues Deutschland, 30. April 2011
Wir brauchen Verträge, die Beschäftigte absichern
Der Europaabgeordnete Thomas Händel befürchtet soziale Verwerfungen als Folge der Arbeitnehmerfreizügigkeit **
Am Sonntag (1. Mai) öffnen Deutschland und Österreich ihren Arbeitsmarkt für Beschäftigte aus osteuropäischen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Um ein Sozialdumping und soziale Verwerfungen zu verhindern, fordern insbesondere Linke und Gewerkschaften den Abschluss von Tarifverträgen in allen Branchen und die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns. Mit Thomas Händel sprach Aert van Riel über mögliche Veränderungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt durch die Öffnung gegenüber Arbeitnehmern aus acht osteuropäischen EU-Staaten ab dem 1. Mai.
ND: Welche Veränderungen erwarten Sie ab dem 1. Mai auf dem deutschen Arbeitsmarkt durch dessen Öffnung für Arbeitnehmer aus Osteuropa?
Händel: Laut Bundesagentur für Arbeit werden wahrscheinlich zunächst etwa 100 000 Menschen im Jahr kommen. Ich halte diese Zahl durchaus für realistisch. Man darf dabei aber nicht nur auf die osteuropäischen Länder sehen. Auch polnische Arbeitnehmer beispielsweise aus den Niederlanden könnten nach Deutschland zuwandern, weil sie sich in tarifvertraglich geschützten Arbeitsverhältnissen bessere Bedingungen versprechen. Die Arbeitsmigration wird in den nächsten Jahren allerdings abnehmen. Ich gehe davon aus, dass Probleme auf dem deutschen Arbeitsmarkt entstehen, weil die Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht auf die entsprechenden Regelungen trifft. Wir brauchen Tarifverträge und Beschäftigungsbedingungen, die Beschäftigte absichern. Ohne diese könnte die neue Regelung zu heftigen sozialen Verwerfungen führen.
Welche Probleme könnten das sein?
Wer jetzt zur Arbeitssuche nach Deutschland kommt und sich in einem Betrieb bewirbt, in dem Tarifverträge gelten, der hat kein Problem, denn für denjenigen gelten auch die Arbeitsbedingungen des dortigen Tarifvertrages. Aber in einigen Branchen gibt es keine Tarifverträge. Dort ist dem Lohndumping Tür und Tor geöffnet. Über die aufgeweichte Möglichkeit, Arbeitnehmer zu den Bedingungen ihres Heimatlandes nach Deutschland zu entsenden, tritt außerdem eine Wettbewerbs- und Lohnkonkurrenz in das Land ein, der nach meiner Überzeugung nur durch einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn effektiv begegnet werden kann.
Das deutsche Arbeitnehmer-Entsendegesetz, wonach arbeitsrechtliche Bedingungen bei der Entsendung eingehalten werden müssen, bietet also nach Ihrer Auffassung nicht genügend Schutz für die Arbeitnehmer?
Nein, denn nach den jetzt getroffenen Regelungen sind gerade einmal etwa drei Millionen Beschäftigte vor Lohndumping weitgehend geschützt. Es gibt aber riesige Lücken in einigen Branchen. Denn Tarifverträge sind nicht überall allgemein verbindlich. Ich sehe hierbei einen großen Regelungsbedarf, den die Bundesregierung allerdings verschlafen hat.
Vor allem in der Zeitarbeitsbranche wird ein massiver Konkurrenzdruck
durch Firmen aus Osteuropa erwartet.
Wir haben in Deutschland die fatale Situation, dass schon weit über zwei Millionen Menschen für weniger als sechs Euro die Stunde arbeiten. Man hat in der Zeitarbeitsbranche zwar jetzt einen Mindestlohnsatz gefunden, der darüber liegt, aber in dieser Branche sind die sozialen Verhältnisse der Beschäftigten am schlechtesten geregelt. Deshalb braucht man dort einen höheren Mindestlohn und eine Reform des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes.
Die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa lehnen Sie indes nicht grundsätzlich ab?
Die Arbeitnehmerfreizügigkeit, wonach ein Beschäftigter seinen Arbeitsplatz frei wählen kann, ist eine Errungenschaft, die man nicht schlecht reden darf. Das allerdings wird nur vernünftig zu regeln sein, wenn es einen entsprechenden Schutz der jeweiligen Tarifverträge in dem jeweiligen Land gibt. Das ist in fast allen anderen europäischen Ländern so geregelt. In Deutschland weist dieses Schutzsystem dagegen erhebliche Lücken auf. Deswegen liegt die Krux nicht in der Frage der Arbeitnehmerfreizügigkeit, sondern in der Frage der sozialen Sicherung, die in Deutschland zu stark durchlöchert ist.
Wer wird von der neuen Regelung voraussichtlich profitieren?
Gewinner könnten Betriebe sein, die in der Lage sind, besser qualifizierte Fachkräfte anzuwerben. Da gibt es in einigen Bereichen durchaus Bedarf. Ich sehe in diesem Zusammenhang jedoch vielmehr die Notwendigkeit, die hier lebenden Arbeitnehmer besser zu qualifizieren.
Wollen Sie die Regelung zur Arbeitnehmerfreizügigkeit zum Anlass nehmen, wieder eine mögliche Richtlinie für einen EU-weiten Mindestlohn ins Gespräch zu bringen?
Wir haben im Europaparlament versucht, einen Grundsatz durchzusetzen, wonach auf der Basis von 60 Prozent des jeweiligen nationalen Durchschnittsverdienstes ein Mindestlohn installiert wird. Viele andere europäische Länder haben damit kein Problem. 20 europäische Länder von 27 haben eine gesetzliche Mindestlohnregelung, die mehr oder weniger in diese Richtung zielt. Andere Länder haben über tarifvertragliche Systeme Mindestlohnkonditionen, allein Deutschland hat keine vernünftige und ausreichende gesetzliche Mindestlohnregelung. Deswegen ist der Handlungsbedarf auf deutscher Ebene wichtiger als auf der europäischen Ebene.
Im Europaparlament konnten wir diese Formulierung in einigen Berichten durchbringen, aber die Europäische Union hat in dieser Frage keine Weisungskompetenz gegenüber den Nationalstaaten. Das ist in diesem Fall misslich. In punkto Schutz unserer Tarifautonomie in Deutschland ist es allerdings gut, dass die EU nichts mitzureden hat.
** Thomas Händel ist für die LINKE Mitglied im Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten des Europaparlaments.
Aus: Neues Deutschland, 30. April 2011
Das Stichwort: Arbeitnehmerfreizügigkeit
Am 1. Mai wird der deutsche Arbeitsmarkt vollständig für Erwerbstätige aus acht Ländern geöffnet, die 2004 der Europäischen Union beigetreten sind: Polen, Tschechien, Slowakei, Slowenien, Ungarn sowie Estland, Litauen und Lettland. Deutschland hat damit, ebenso wie Österreich, die vollständige Übergangszeit von sieben Jahren ausgeschöpft, die die EU den alten Mitgliedsländern eingeräumt hatte.
Großbritannien, Irland und Schweden hatten ihre Grenzen für mittel- und osteuropäische Arbeitskräfte sofort geöffnet, während die übrigen zehn alten EU-Länder ihre Arbeitsmärkte nach und nach öffneten. Für Zypern und Malta, die ebenfalls 2004 in die EU aufgenommen wurden, galten die Einschränkungen nicht.
Arbeitnehmerfreizügigkeit bedeutet, dass Staatsangehörige aller EU-Mitgliedsländer in jedem anderen EU-Land zu den gleichen Bedingungen eine Arbeit aufnehmen können wie die Einheimischen. Die Freizügigkeit gehört zu den Grundrechten in der EU. Mit der Übergangsfrist für die Arbeitnehmerfreizügigkeit wurde dieses Recht vorübergehend eingeschränkt. Die Einschränkung gilt auch weiterhin für die beiden jüngsten EU-Länder Rumänien und Bulgarien, die 2007 beitraten.
Die Aufrechterhaltung der Übergangsfrist wurde zwei Mal überprüft. 2006 und 2009 mussten die Staaten der EU-Kommission mitteilen, ob sie ihren Arbeitsmarkt öffnen oder weiter abschotten wollen. Spanien, Portugal und Finnland öffneten die Grenzen für Arbeitnehmer 2006. Polen, Ungarn und Slowenien schlossen im Gegenzug zur Abschottung der alten Mitgliedsstaaten ihrerseits ihren Arbeitsmarkt für alle EU-Arbeitnehmer außer Schweden, Iren und Briten.
Die EU-Kommission geht davon aus, dass nach der Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes jährlich etwa 100 000 Zuwanderer aus Osteuropa nach Deutschland kommen. Das gelte für die nächsten vier bis fünf Jahre, sagte eine Sprecherin von EU-Beschäftigungskommissar László Andor am Donnerstag.
(ND/Agenturen)
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