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5000 Flüchtlinge warten in der Wüste

Amnesty International und Pro Asyl plädieren für Aufnahme in EU-Staaten

Von Fabian Lambeck *

Sie sind die kaum beachteten Opfer des arabischen Frühlings: In provisorischen Wüstenlagern warten 5000 von der UNO bereits anerkannte Flüchtlinge auf ihre Weiterfahrt nach Europa. Doch die meisten EU-Staaten sperren sich gegen die unwillkommenen Migranten. Amnesty International und Pro Asyl fordern nun von der Bundesregierung, wenigstens einen Teil der Verzweifelten aufzunehmen.

Sie kommen aus Ländern wie Somalia, Sudan oder Eritrea. Auf der Flucht vor Bürgerkrieg, Unterdrückung und Hunger strandeten Zehntausende von ihnen in Nordafrika. Zwar wurden in jüngster Zeit jene arabischen Despoten gestürzt, die von EU-Ländern bislang dafür bezahlt wurden, die Flüchtlinge an der Überfahrt nach Europa zu hindern. Doch für viele hat der arabische Frühling keine Verbesserungen gebracht. Im Gegenteil: Über 5000 vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) bereits anerkannte Flüchtlinge sitzen in provisorischen Lagern in Tunesien und an der ägyptisch-libyschen Grenze fest. Das UNHCR appellierte an die reichen Industrienationen, diese Menschen nicht zu vergessen. Und die Reaktion? »Nur sieben EU-Staaten wollen einige Flüchtlinge aufnehmen«, so Wolfgang Grenz, der Generalsekretär von Amnesty International, am Donnerstag in Berlin. »Deutschland ist übrigens nicht darunter«, betonte Grenz.

Anlässlich des 25-jährigen Jubiläums des Tag des Flüchtlings forderten Amnesty International und Pro Asyl am Mittwoch von der Bundesregierung, hier endlich zu handeln. Wie Pro-Asyl-Geschäftsführer Günter Burkhardt unterstrich, dränge die Zeit. Da die Flüchtlinge weder in Tunesien noch in Libyen oder Ägypten auf Dauer sicher leben können, »wagen viele den Weg über das Mittelmeer«, so Burkhardt. Allein in diesem Jahr starben bislang mehr als 1900 Verzweifelte bei dem Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Burkhardt appellierte an Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU): »Nehmen Sie die Flüchtlinge aus Nordafrika auf. Damit können Sie Menschen vor einer lebensgefährlichen Flucht retten.« Wo sollen sie auch hin? In der Heimat warten Krieg, Hunger und Despoten.

Burkhardt machte auf die Schizophrenie deutscher Migrationspolitik aufmerksam. So erklärte sich die Bundesregierung zwar bereit, 150 auf Malta gelandete Flüchtlinge aufzunehmen. Gleichzeitig schiebe Deutschland aber Migranten nach Malta ab. Obwohl bekannt sei, dass dort »Asylsuchende monatelang unter unmenschlichen Bedingungen inhaftiert werden«, so Burckhardt. Dabei können sich die Behörden auf das Dublin-II-Abkommen berufen, das Staaten das Recht gibt, Asylsuchende an jenes EU-Land zu überstellen, wo diese erstmals die Außengrenze der Union überschritten haben.

Dabei gibt es im vergreisenden Deutschland keine Alternative zu einer modernen Migrationspolitik. Für Burkhardt gehört dazu auch, »den rund 75 000 Menschen, die schon länger als sechs Jahre nur geduldet in Deutschland leben, endlich einen sicheren Aufenthalt zuzusprechen«.

Deutschlands Umgang mit Migranten liegt ganz auf europäischer Linie. »Europa schützt die Grenzen, nicht die Flüchtlinge«, fasste Burkhardt den EU-Konsens zusammen. Dabei habe die Zusammenarbeit mit den Despoten Nordafrikas bestens funktioniert, wie Amnesty-Generalsekretär Grenz kritisierte. So schickte Italien im Rahmen eines »Freundschaftsabkommens« mit Diktator Gaddafi Tausende nach Libyen zurück. Wie Grenz am Mittwoch sagte, habe Italien mit dem neuen libyschen Übergangsrat mittlerweile ein Nachfolgeabkommen unterzeichnet. Am 21. August sollen so bereits die ersten 100 Menschen in den Wüstenstaat deportiert worden sein.

* Aus: Neues Deutschland, 29. September 2011

Dokumentiert

FLÜCHTLINGE IN NORDAFRIKA: JETZT MUSS EUROPA HANDELN!

28. September 2011 - Der Konflikt in Libyen zwang hunderttausende Menschen zur Flucht in die Nachbarstaaten. Darunter Flüchtlinge und Asylsuchende aus Somalia, Eritrea, Äthiopien dem Sudan und vielen anderen Staaten, die in Libyen lebten oder das Land als Transitland durchquerten. Rund 5000 von ihnen harren nach wie vor unter elenden Bedingungen in Flüchtlingslagern in Tunesien und Ägypten aus. Sie können wegen drohender Verfolgung oder Gefahr für Leib und Leben nicht in ihre Herkunftsländer zurückkehren.

"Hier gibt es kein Leben"

So die 65-Jährige Amina aus Somalia, die mit ihrer Tochter und sechs Monaten alten Enkeltochter im März aus Tripolis in das tunesische Flüchtlingslager Choucha kam. Amina ist seit mehr als 16 Jahren auf der Flucht. Sie leidet unter Diabetes und einer alten Verletzung, bei ihrer Tochter Nadifa wurde ein Loch im Herzen sowie Asthma diagnostiziert. "Ich habe 20 Jahre gewartet", sagte Amina Amnesty International, "muss ich noch einmal 20 Jahre warten? Hier gibt es kein Leben".

Die 29-Jährige Meron Abebe* aus Äthiopien war im achten Monat schwanger, als Amnesty International sie an dem ägyptischen Grenzposten Salloum traf. Sie musste aus ihrem Heimatland fliehen, nachdem ihr Vater nach der Parlamentswahl 2005 inhaftiert wurde. Nach drei Jahren als Hausangestellte im sudanesischen Khartoum hörte sie Gerüchte, dass die sudanesische Regierung mit der Abschiebung von Äthiopiern begonnen habe, und floh nach Libyen. Dort war sie zunächst monatelang wegen illegaler Einreise inhaftiert. Anschließend fand sie Arbeit als Reinigungskraft. Nach Beginn des Konflikts sei die Behandlung von Ausländern aus Subsahara-Afrika jedoch schlechter geworden. Sie sei zusammen mit ihrem Mann geflohenen, nachdem ihr aus dem Tschad stammenden Vermieter gewaltsam von Libyern attackiert wurde. Inzwischen wurde Meron Abebe formal als Flüchtling anerkannt. "Es wäre gut, wenn wir in diesen schwierigen Zeiten Hilfe bekommen könnten", sagte sie. "Wenn ich hier sterbe, hätte ich ebenso gut in Benghazi bleiben können."

Einzige Lösung: Neuansiedlung in einem Drittland

Einzig mögliche dauerhafte Lösung für die in Tunesien und Ägypten gestrandeten Flüchtlinge ist die Neuansiedlung in einem Drittland (Resettlement). Das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) rief die internationale Gemeinschaft dazu auf, schutzbedürftige Flüchtlinge aus den Flüchtlingslagern in Tunesien und Ägypten aufzunehmen. Die Reaktion gerade der EU-Staaten auf diese Krise vor den Toren Europas ist jedoch beschämend. Sie haben bisher wenig Bereitschaft zur Hilfe gezeigt. Lediglich sieben EU-Mitgliedsstaaten boten bisher insgesamt weniger als 400 Aufnahmeplätze an. Deutschland ist nicht darunter.

Die in Tunesien und Ägypten gestrandeten Flüchtlinge werden zunehmend verzweifelt. Flüchtlinge gehen sogar zurück nach Libyen, um die gefährliche Überfahrt über das Mittelmeer nach Europa zu wagen. Die Schaffung zusätzlicher Resettlement-Plätze und eine Beschleunigung der Verfahren sind auch deswegen dringender denn je.

Quelle: amnesty international; www.amnesty.de




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