Gemeinsame Erfahrung
Wie Afrikaner waren Europäer einst Emigranten
Von Julio Godoy, Paris *
Die Europäische Union schottet sich gegen Migranten ab. Dabei hätten viele Europäer die Kriege
des 20. Jahrhunderts nicht überlebt, wären sie nicht emigriert.
Von den mehr als 30 000 Afrikanern, die im vergangenen Jahr auf den Kanarischen Inseln
gestrandet sind, konnten sich nur wenige die Statue ansehen, die sich über die kleine Hafenstadt
Garachico an der Nordküste Teneriffas erhebt. Der Mann mit Koffern, der in Richtung Atlantik blickt,
steht für hunderttausende Spanier, die im 20. Jahrhundert per Schiff zum amerikanischen Kontinent
aufbrachen: auf der Flucht vor der Armut nach dem blutigen Bürgerkrieg der 30er Jahre oder der
Diktatur von General Franco. Wo das Herz des Reisenden sein sollte, klafft ein Loch. Es
symbolisiert, dass es die Emigranten nicht freiwillig in die Fremde trieb, sondern sie ihr Herz in der
Heimat zurückließen.
Ein Gefühl, das viele Afrikaner kennen, die nach Teneriffa oder auf die Kanaren kamen, um Armut
und politischer Gewalt zu entgehen. In weniger als einem Jahrhundert hat sich die zu Spanien
gehörende Inselgruppe von einem Auswanderungshafen in ein Einwanderer- und Flüchtlingsziel
verwandelt. Eine Herausforderung für die EU, die oft nur als Bedrohung empfunden wird. Im
Dezember stimmten die 25 EU-Mitgliedstaaten in Brüssel einer neuen Einwanderungspolitik zu. Sie
soll im Juni verabschiedet werden. Viele Europäer sind gegen eine Politik, die der Immigration nach
Europa Vorschub leistet. Sie favorisieren härtere Grenzkontrollen. Einer der Hauptverfechter dieser
Linie ist der französische Innenminister und Präsidentschaftskandidat Nicolas Sarkozy.
Wissenschaftler sehen in der Zuwanderung dagegen enorme Vorteile – nicht nur für die
Entwicklungsländer, sondern auch für Europa. »In vielen Ländern wie Indien, Marokko oder Brasilien
ist die Zahl der Hochschulabsolventen wesentlich höher als der Bedarf auf dem Arbeitsmarkt«,
erläutert Catherine Withol de Wenden, Migrationsexpertin vom Französischen Forschungsinstitut
(CERI). »Deshalb geht die Emigration nicht zwangsläufig mit einem Braindrain einher.« Zudem
helfen Zuwanderer ihren zu Hause gebliebenen Familien. Für Migration sprechen überdies
wirtschaftliche und demographische Gründe. Durch sie ließe sich der Bevölkerungsschwund in
Europa bis 2050 ausgleichen, meint François Héran, Direktor des Französischen Instituts für
demographische Studien (INED).
IPS
* Aus: Neues Deutschland, 16. Januar 2007
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