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Vormarsch der globalen Apartheid

Trauriger Zustand von Menschenrechten und Flüchtlingsschutz 70 Jahre nach der Konferenz von Evian

Von Heiko Kauffmann *

2008 war ein denkwürdiges Erinnerungsjahr: Erinnerung an den Juli 1938. Vor 70 Jahren fand die Konferenz von Evian statt, begleitet von den Hoffnungen Hunderttausender, dass dort Recht über Willkür, Gerechtigkeit über Unrecht, Humanität über Barbarei siegen würde. Und dann – das niederschmetternde Ergebnis, die Schmach von Evian: keine konkreten Hilfen für die von den Nazis tödlich bedrohten Juden, keine befreienden Zusagen, kein Druck auf Nazi-Deutschland, statt Öffnung die Schließung der Grenzen, statt Ausweitung die Verweigerung von Visa, statt Lockerung die Verschärfung der Einwanderungsgesetze – und dazu noch gute Worte und die Gründung eines Ausschusses.

2008 erinnerte aber auch an den 60. Jahrestag der Erklärung der Menschenrechte 1948 und damit an die Konsequenzen, welche die Völkergemeinschaft aus ihrem damaligen Versagen zog. Die damals einsetzende Ausgestaltung der individuellen Schutzrechte, die Stärkung der Individuen vor staatlicher Allmacht und Willkür in Menschenrechtskonventionen und völkerrechtlichen Verträgen waren und sind auch eine Antwort auf das Grauen und die Barbarei des 20. Jahrhunderts, der Versuch, einen Rückfall unmöglich zu machen.

70 Jahre nach Evian, 60 Jahre nach der Erklärung der Menschenrechte, müssen wir feststellen: Um den Flüchtlingsschutz ist es weltweit nicht gut bestellt. Das Schutzniveau ist in den letzten 20 Jahren beträchtlich gesunken.

Festung nach innen und außen

Mit der allmählichen Ausgliederung von Flüchtlingen aus dem allgemeinen Recht, mit der Installierung immer neuer Sondergesetze, -vorschriften, -erlasse und -richtlinien werden Flüchtlinge in Deutschland und inzwischen auch in der EU insgesamt Diskriminierungen mit räumlicher Abtrennung aus der Gesellschaft unterworfen. Ein Leben unter Vorbehalt: Unterbringung, »Residenzpflicht«, eingeschränkte Versorgung, medizinische Ausgrenzung, Lager, Kontrolle, Überwachung, Abschiebung.

Verstöße führen zur Kriminalisierung und Illegalisierung von Betroffenen, zu Abschiebehaft, Zwangsvorführungen bis hin zu Auslieferung oder Abschiebung. Längst arbeitet der Rechtsstaat mit dem Verfolgerstaat zusammen, erkundet Fluchtrouten, schließt Rückübernahmeabkommen, führt Flüchtlinge in einem fortschreitenden Prozess der Segregation in immer extremere Räume der Gesellschaft bis hin zur externen, geografischen Segregation in militärisch bewachten Flüchtlingslagern. »Regionalisierung« des Flüchtlingsproblems mit militärischen Mitteln, von Innenministern abgestimmte Aktionspläne zur Verhinderung der Aufnahme von Flüchtlingen. Auf der anderen Seite Festungen des Wohlstands, Reichtums und der »Wohlanständigkeit«. Dies alles geschieht im Namen Europas, im Namen der Demokratie.

Im Innern Abschiebehaftanstalten, an den abgelegensten und finstersten Orten, monströse Festungsanlagen hinter sechs Meter hohen Betonmauern, eingefasst in Stacheldraht und umgeben von modernster Sicherheitstechnik – sinnbildliche Monumente der »Festung Europa« und sichtbarer Ausdruck einer Politik der Abwehr, der Abschottung und Abschreckung. Oder die Festung nach außen: Zäune und Überwachungsanlagen, Wachtürme, Schneisen aus Beton und Stahl, Stacheldraht, gespickt mit scharfen Klingen, hochgerüstete Grenzanlagen mit Infrarot-/Wärmebildkameras, Richtmikrofonen und automatisierten Tränengasanlagen, ein vollautomatisiertes Grenzkontroll-»Entry-Exit-System«, das künftig biometrische Daten von Millionen von Menschen abgleichen soll, bis hin zu einer »virtuellen« Mauer, dem Einsatz von Satelliten und Drohnen an allen Land- und Seegrenzen. Dazu die Aufwertung und Aufrüstung der EU-Grenzschutzagentur Frontex, Europas bewaffnetem Arm gegen Flüchtlinge. Aus dem »Eisernen Vorhang« und den Mauern von einst sind heute undurchlässige Barrieren, martialische Bollwerke, Mauern aus Paragrafen und Gesetzen, virtuelle Mauern, »High-Tech-Vorhänge«, bewaffnete Schilde gegen die Armut, »die große Mauer des Kapitals« geworden, die die Armen der Welt brutal von den reichen Ländern ausgrenzen. (Mike Davis)

Die Bereitschaft der Politik, im vorgeblichen Kampf gegen den Terror Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit Sicherheitsinteressen unterzuordnen, hat nicht nur zu einer staatlichen Aufrüstung ohnegleichen geführt. Es hat sie auch vergessen lassen, dass Flüchtlings- und Menschenrechtsschutz selbst die entscheidenden und überzeugendsten Antworten der Zivilisation auf Terror und Unmenschlichkeit sind.

So wie sie aber die Ursprünge und Intentionen des Rechts auf Asyl vergessen hat, so verdrängt sie auch die Ursachen der Flucht. Die Lager im Kern und in den Randzonen Europas, die Lagergürtel rund um Europa werden zum Sinnbild eines postkolonialen Systems globaler Apartheid. Das »menschliche Labor« (Tom Kucharz) einer militärisch und technologisch abgesicherten Flüchtlingspolitik, in dem völkerrechtliche Mindeststandards mit Füßen getreten werden, hat gravierende Folgen: militärisch abgesicherte, extraterritoriale Lager der Armut, Ausgrenzung, Recht- und Gesetzlosigkeit einerseits, Festungen des Wohlstands und der »Rechtsstaatlichkeit« andererseits.

Ausnahmezustand wird zum Normalfall

Das Leben in Lagern, im Ausnahmezustand droht zum Normalfall, zur Realität des Flüchtlings im 21. Jahrhundert zu werden. Die Fixierung auf angeblich unvermeidliche Sachzwänge durchdringt nicht mehr nur die Prinzipien der globalen Wirtschaft; sie manifestiert sich auch in den Grenzbefestigungsanlagen, hochgezogenen Mauern und neuen »Eisernen Vorhängen«. Das neoliberale Credo »There is no alternative« dient nun auch als ideologisches Muster für die Installierung eines Kollektivbewusstseins, das die europäische Abwehr- und Abschottungspolitik rechtfertigen soll.

Klaus Bade resümiert in seinem Buch »Europa in Bewegung«: »So lange das Pendant der Abwehr von Flüchtlingen aus der ›Dritten Welt‹, die Bekämpfung der Fluchtursachen in den Ausgangsräumen, fehlt, bleibt diese Abwehr ein historischer Skandal, an dem künftige Generationen das Humanitätsverständnis Europas im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert messen werden.«

Wenn es in diesem Jahrhundert nicht gelingt, von der proklamierten Universalität der Menschenrechte zur Realität der Anerkennung dieser Ziele, zu ihrer praktischen Umsetzung weltweit zu gelangen, wäre diese nicht nur ein historischer Skandal, der das Menschenbild und den Humanitätsanspruch Deutschlands, Europas und der westlichen Welt gänzlich in Frage stellt; es wäre auch die Bankrotterklärung und Kapitulation des Projekts der rechtsstaatlichen Demokratie vor der Allmacht des Marktes.

Im politischen Umgang mit Flüchtlingen zeigt sich heute die unheilvolle Kontinuität einer nur oberflächlich aufgearbeiteten deutschen und europäischen Vergangenheit. Glaubwürdiges Handeln im Gedenken an die Verfolgten und Opfer dieser Zeit muss sich heute in erhöhter Sensibilität und Wachsamkeit gegenüber Verfolgung, Menschenrechtsverletzungen und Gewaltstrukturen in der Gegenwart erweisen.

Eine wichtige Lehre aus dem Scheitern von Evian, eine der wichtigsten Lehren für die Demokratie ist der absolute Grundsatz der uneingeschränkten Wahrung der Würde des Menschen, jedes Menschen, die unversehrte Bewahrung des Selbst, jedes Selbst. Dies schließt den Grundsatz der Gleichheit und den unveräußerlichen Anspruch auf Freiheit und Glück ein, was besagt, »dass der Mensch Ziel und Mittelpunkt seines Daseins ist, dass das Gedeihen und die Verwirklichung der menschlichen Individualität nie Zwecken unterzuordnen ist, die sich für wichtiger ausgeben als die Zwecke des Selbst«. (Erich Fromm) Im Mittelpunkt der europäischen Asylpolitik steht aber nicht mehr der einzelne Mensch, der Schutz des Individuums, sondern eine Staatsräson, die »innerer Sicherheit« und »Terrorabwehr« Vorrang vor Flüchtlings- und Menschenrechtsschutz einräumt.

Es ist ein Verrat an den viel beschworenen Werten Europas, seiner Tradition der Aufklärung, der Demokratie und der Menschenrechte, wenn seine Real- und Flüchtlingspolitik heute zur Minderbewertung und aggressiven Abgrenzung von anderen Kulturen und Menschen anderer Herkunft führt. Dies ist ein Wertigkeitsmerkmal – das lehrt die deutsche und europäische Geschichte – dessen sich autoritäre oder faschistische Regime zur Rechtfertigung von Rassismus, Antisemitismus und Krieg leicht bedienen.

Seerettung vor Helgoland, Frontex im Mittelmeer

Ungleichbehandlung aufgrund der Herkunft erscheint immer dann besonders eklatant, wenn es um die Wertschätzung von Menschenleben geht. Ginge es um Deutsche oder Europäer, die vor der Kanalküste oder vor Helgoland in Seenot gerieten, wäre eine ganze Armada umgehend zur Stelle. Seenotrettungskreuzer, Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger, Ärzte und Gesundheitsdienst, psychische Betreuung, freiwillige und ehrenamtliche Helfer – und das alles wäre gut so.

Die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger stellt ihrem Jahrbuch ein Wort von Antoine de Saint-Exupéry voran: »Mensch sein heißt: Verantwortung fühlen, sich schämen beim Anblick einer Not auch dann, wenn man selbst spürbar keine Mitschuld an ihr hat; (…) und persönlich seinen Stein beitragen im Bewusstsein, mitzuwirken am Bau der Welt«.

Die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger hat 2007 in über 2000 Einsatzfahrten in Nord- und Ostsee unter anderem circa 800 Personen aus drohenden Gefahrensituationen befreit, 124 Menschen aus akuter Seenot gerettet und in über 500 Fällen erkrankten und verletzten Menschen geholfen. Auf dem vergleichsweise kleinen deutschen Wasserareal von Nord- und Ostsee steht ihr eine Rettungsflotte von 64 Seenotkreuzern beziehungsweise Seenotrettungsboten mit über 150 Hauptamtlichen und über 800 Ehrenamtlichen zur Verfügung. Diese haben 140 000 Kilometer auf ihren Einsatz- und Kontrollfahrten in Nord- und Ostsee zurückgelegt. Dafür hat dieser »rechtsfähige Verein kraft staatlicher Verleihung« über 17,5 Millionen Euro von 300 000 Spendern und Förderern eingenommen. Diese Arbeit ist ein positives Beispiel für humanitäres und soziales Engagement; es zeigt den zivilisatorischen und humanitären Standard der Seenotrettungsmöglichkeiten Deutschlands und Europas auf.

Je mehr Flüchtlinge an den Südgrenzen ertranken oder Schiffbruch erlitten, umso mehr Gelder und Schiffe stellte die EU für ihre Überwachungsbehörde Frontex zur Verfügung – aber nicht um zu retten, Überleben und Aufnahme der Menschen in Not zu sichern, sondern um sie noch effektiver abdrängen und gezielt daran hindern zu können, nach Europa zu gelangen. Das tausendfache sinnlose Sterben an den Außengrenzen ist die humanitäre und politische Bankrotterklärung und eine Schande für Europa.

Zu zivilisatorischen Mindeststandards muss auch gehören, dass Strafverfahren oder Ermittlungen gegen Kapitäne und Angehörige von Schiffsbesatzungen, die ihrer menschlichen Verantwortung gerecht geworden und ihrer Menschenpflicht nachgekommen sind und Flüchtlinge aus Seenot gerettet haben, eingestellt werden. Nicht Menschen, die andere vor dem Tod retten, gehören vor Gericht, sondern die, die für unterlassene Hilfeleistungen und für das Sterben an den Grenzen ursächlich verantwortlich sind.

Evian ist auch gescheitert, weil es – neben den jüdischen Organisationen und vielen einzelnen Künstlern, Intellektuellen und Autoren keine starken organisierten sozialen Bewegungen gab, die innerhalb der Länder wie international eine breite Öffentlichkeit herstellten, Transparenz schufen, die Menschen gegen diese Politik mobilisierten und einen nachhaltigen Druck auf sie ausübten. Deshalb ist es nötig, dass sich die sozialen Bewegungen, die Nichtregierungs- und Menschenrechtsorganisationen, Kirchen und Gewerkschaften, die gesamte Zivilgesellschaft nicht nur als Reparaturwerkstätten für staatliche Versäumnisse und als Bittsteller der Politik verstehen, sondern als Antriebskräfte, Impulsgeber und Teilhaber einer demokratischen Erneuerung.

Ausweg: Globalisierung von unten

Sie können mit ihren Zielen und Vorschlägen zur intelligenten Deeskalation gesellschaftlicher Konflikte beitragen, der Politik »auf gleicher Augenhöhe« gegenübertreten und mit ihren Vorstellungen und Initiativen Gegenmodelle einer (um mit Jacques Derrida zu sprechen) »démocratie à venir«, einer »kommenden Demokratie« erahnen und sichtbar werden lassen.

Die Mahnung Willy Brandts von 1988, »nie wieder wegzuschauen, wenn Unrecht geschieht«, und seine Forderung: »vernehmbares Aufbegehren, auch wenn es unbequem ist oder sogar ein Risiko bedeutet« (zitiert nach Henning Müller, Tatort Deutschland, S. 16), heißt heute angesichts der EU-Asylpolitik, der Globalisierung von oben eine »Globalisierung von unten«, eine starke kollektive soziale Gegenbewegung von unten entgegenzustellen, die bemüht ist, Transparenz herzustellen, demokratische gesellschaftliche Kontrolle und Steuerung zurückzugewinnen, und sich in ihrem Kampf um Solidarität und Humanität national und international zu vernetzen.

* Der Autor ist mit seiner Organisation Pro Asyl Träger des Aachener Friedenspreises.
Der Text findet sich in seinen Hauptthesen gemeinsam mit weiteren Beiträgen zum Flüchtlingsschutz in der folgenden Veröffentlichung:
Von Evian nach Brüssel, Hrsg: W. Benz, C. Curio, H. Kauffmann, Löper Literaturverlag 2008, ISBN: 978-3-86059-523-7

Aus: Neues Deutschland, 2. Januar 2009



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