Vergessene Rechte
Bürgerrechtler kritisieren den Umgang mit Grund- und Menschenrechten in Deutschland
Von Ines Wallrodt *
Der neue Grundrechtereport listet zahlreiche Beispiele von Verstößen durch staatliche Institutionen auf, hält aber auch ein paar gute Nachrichten bereit.
Einmal im Jahr erklären Verfassungsschutzämter von Bund und Ländern den Bürgern, wer nach ihren Erkenntnissen die Verfassung und Sicherheit der Bundesrepublik gefährdet. Von Islamisten und Linken ist dann die Rede, auch von Neonazis. Sich selbst erwähnen sie nicht. Genauso wenig wie prügelnde Bundespolizisten, verstockte Versammlungsbehörden oder autoritäre Innenpolitiker. Diese Aufgabe übernehmen daher acht Bürger- und Menschenrechtsorganisationen, die einen Tag vor dem Tag des Grundgesetzes am Freitag in Karlsruhe ihren diesjährigen Grundrechtereport vorstellten und festhalten: »Die Gefährdung der Verfassung geht vom Staat aus.«
Wie genau staatliche Institutionen gegen Grund- und Menschenrechte der Bürger verstoßen, weisen Rechtsanwälte, Datenschützer, Alt-Liberale, ehren- und hauptamtliche Bürgerrechtsaktivisten auf knapp 250 Seiten systematisch nach. »Durch technisierte Ausspähung und Überwachung wird immer hemmungsloser in die Grundrechte eingegriffen«, erklärte Constanze Kurz bei der Präsentation des Berichts. Die Netzexpertin klingt beinahe resigniert, wenn sie konstatiert, dass sich auch fast zwei Jahre nach Beginn der Snowden-Enthüllungen politisch nichts getan habe. »Der nicht nennenswert kontrollierte geheimdienstliche Komplex unterminiert weiterhin Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis bis zur Unkenntlichkeit, nur jetzt mit unserem Wissen«, so Kurz.
Die bekanntgewordene Ausspähung durch NSA und BND bilden einen Schwerpunkt des »Alternativen Verfassungsschutzberichts«. Der Jurist und Publizist Rolf Gössner legt dar, dass der BND sogar noch aufgerüstet wird, statt die Überwachungsmaschinerie zu zügeln. Dass die Bundesanwaltschaft die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens wegen der massenhaften Überwachung mangels »zureichender Tatsachen« eingestellt hat, kritisiert Gössner als »Realitätsverleugnung oder Willfährigkeit«, die sich nahtlos ins Bild regierungsamtlich organisierter Verantwortungslosigkeit einfüge.
Der linke Aktivist Andreas Blechschmidt machte in Karlsruhe deutlich, was es bedeutet, wenn Sicherheitsbehörden jemanden zum Feind erklären. Jahrelang forschte eine verdeckte Ermittlerin die linke Szene Hamburgs aus, pflegte Liebesbeziehungen und Freundschaften. Dabei seien personenbezogene Daten weitergegeben worden. Das sei strafrechtlich relevant, betonte Blechschmidt, der einer Recherchegruppe im autonomen Kulturzentrum Rote Flora angehört, die den Vorfall aufgedeckt hat.
Einige Beiträge erinnern an wichtige Gerichtsentscheidungen und Etappensiege, manch positive Bilanz ist bei Erscheinen des Reports schon wieder überholt. Die Herausgeber haben das geahnt. »Über erneute Versuche der Einschränkung der Freiheitsrechte und der Überwachung aller Bürger wird im nächsten Report zu berichten sein«, schreiben sie in ihrem Vorwort. So freut sich der Datenschutzbeauftragte Thilo Weichert in dieser Ausgabe noch, dass der Europäische Gerichtshof die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung verworfen hat und damit die Diskussion auch hierzulande beendete, setzte aber vorausschauend ein »vorläufig« hinzu. Wohl kaum jemand hätte allerdings damit gerechnet, dass sie so schnell wieder auf dem Tisch liegen würde. Schon in der kommenden Woche will das Kabinett die Maßnahme unter neuem Namen wieder beschließen. Und das, obwohl nationale Alleingänge bei vielen anderen Themen - etwa bei der Aufnahme von Flüchtlingen - in der Regierung verpönt sind. Die Kritik am Umgang mit Menschen in Not, die in Deutschland ein besseres Leben suchen, bildet einen weiteren Schwerpunkt des diesjährigen Grundrechtereports.
Die Bürgerrechtsorganisationen widmen sich in ihrer Rückschau notwendigerweise den großen politischen Skandalen, vergessen aber auch die »kleineren«, alltäglichen Verletzungen und Diskriminierungen von Bürgern in diesem Land nicht. Sie gehen auf die verschleppte Inklusion von behinderten Schülern ein oder die anhaltende Ausgrenzung von Inter- und Trans-Menschen. So manche Schilderung macht regelrecht betroffen: Etwa die einer pflegebedürftigen Frau, die mit Gerichten und Behörden um 576 Euro für eine Zahnprothese ringen musste. Menschenwürde und Gerechtigkeit, das zeigt dieser Fall, der kein Einzelfall sein dürfte, scheinen in einigen deutschen Amtsstuben Fremdwörter zu sein.
Seit 1997 erscheint der Grundrechtereport, seither dokumentiert er in der Regel die unzähligen Einschränkungen des Versammlungsrechts, sei es durch Auflagen, Kesselung von Demonstranten oder den Einsatz von Pfefferspray. Auch diese Ausgabe macht da keine Ausnahme. Ein Beitrag ist dennoch anders: Er berichtet von Erfolgen, die erleben kann, wer sich vor Gericht gegen Verstöße wehrt. Dies verdeutliche, schreibt Elke Steven vom Grundrechtekomitee, »dass der lange Atem auf dem Rechtsweg notwendig ist«. Die Bürgerrechtler wollen mit ihrem Report auch Mut machen, sich aktiv für den Schutz der Demokratie einzusetzen.
T. Müller-Heidelberg, E. Steven u. a. (Hg.): Grundrechte-Report 2015 - Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland, Fischer Verlag 2015, 249 Seiten, 10,99 Euro.
* Aus: neues deutschland, Samstag, 23. Mai 2015
"Geheimdienste sind Fremdkörper in der Demokratie"
Acht Bürgerrechtsorganisationen stellen "Grundrechte-Report 2015" vor. Schwerpunkt: Flüchtlinge. Ein Gespräch mit Elke Steven **
Dr. Elke Steven ist Soziologin und Journalistin, sowie Referentin beim Komitee für Grundrechte und Demokratie e. V. Köln und Mitherausgeberin des »Grundrechte-Reports« (www.grundrechtekomitee.de).
Am Freitag haben acht Bürgerrechtsorganisationen den diesjährigen »Grundrechte-Report« vorgestellt. Einer der Schwerpunkte ist der Umgang mit Flüchtlingen in der Bundesrepublik. Was kritisieren Sie?
Seit 19 Jahren berichten wir über Grundrechtsverletzungen, die ganze Zeit über hat uns die Empörung über den Umgang mit Flüchtlingen begleitet. Von der Abschaffung des Grundrechts auf Asyl 1993 – und faktisch schon lange vorher – bis hin zu den Asylrechtsverschärfungen 2014 lässt sich die Kontinuität des Unrechts beschreiben.
Vor wenigen Wochen sind Hunderte Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken. Dem zur Schau gestellten Entsetzen folgen aber auch jetzt nicht angemessene Taten. Gerichtliche Erfolge schlagen schnell um in neue Praktiken der Kontrolle, der Abwehr und der Demütigung. So hätte man einen kurzen Augenblick meinen können, die Abschiebeknäste könnten aufgrund von Gerichtsurteilen endlich abgeschafft werden. Das neue »Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung« macht aber eine flächendeckende und massenhafte Inhaftierung wieder möglich.
»Gute« Flüchtlinge werden gemäß den nationalen Interessen gegen »schlechte« ausgespielt. Unsere eigene Verantwortung für die Entstehung der Fluchtursachen wird meist gar nicht thematisiert.
Auch die Auswüchse geheimdienstlicher Überwachung durch NSA und BND werden in Ihrem Bericht dargestellt. Gehen Sie davon aus, dass das wahre Ausmaß der Überwachung jemals öffentlich wird?
Seit den Enthüllungen von Edward Snowden Mitte 2013 werden fast täglich weitere Details über das globale Geheimdienstsystem und seine Überwachungspraktiken bekannt. Diese Methoden müssen auch verstanden werden im Kontext der Absicherung geostrategischer Interessen und militärischer Interventionen. Bekannt werden diese Machenschaften sicher nicht durch staatliche Information, sondern am ehesten durch Enthüllungen. Wikileaks hat gerade die Protokolle des NSA-Untersuchungsausschusses des Bundestags veröffentlicht.
Aber erschreckt es Sie nicht, wie derlei Überwachung von der etablierten Politik geduldet und bagatellisiert wird?
Erschreckend ist zugleich, wie sehr es darum geht, soziale Netzwerke auszuforschen. Die haben sich als die Mobilisierungsplattformen für Protestbewegungen herauskristallisiert und sollen geheimdienstlich und polizeilich kontrolliert werden. Und so ist auch davon zu berichten, wie erst seit November 2014 aufgedeckt werden konnte, dass eine verdeckte Ermittlerin des Landeskriminalamtes seit 2000 etwa sechs Jahre lang die politische Szene in Hamburg ausspioniert hat. Mit einer Tarnidentität hat die Beamtin sich an Veranstaltungen beteiligt, in einem freien Radiosender gestaltend mitgewirkt, ist Freundschaften und Liebesbeziehungen eingegangen.
Also sind Geheimdienste nicht kontrollierbar?
Geheimdienste gehören abgeschafft, sie sind Fremdkörper in der Demokratie und zwangsläufig unkontrollierbar.
In dem neuen »Grundrechte-Report« geht es auch um soziale Rechte. Inwiefern sind diese in der Vergangenheit zu kurz gekommen?
Die sozialen Grundrechte sind im Grundgesetz weniger genau kodifiziert als etwa die Freiheitsrechte. Trotzdem gelingt es uns immer wieder, auch diese Verletzungen zu thematisieren. Was ist das für ein Sozialstaat, der nicht genug Geld für eine dringend benötigte Zahnprothese einer pflegebedürftigen alten Frau hat? Um in menschenwürdiger Weise am Leben durch Nahrungsaufnahme und Kommunikation teilzunehmen, wäre die Prothese notwendig gewesen. Hochdotierten Staatsbediensteten, die als Richter darüber zu entscheiden haben, fehlt jedoch die Empathie, sich in eine solche Situation zu versetzen – mit ihren Pensionen werden sie auch nie in eine solche Lage kommen.
Interview: Markus Bernhardt
** Aus: junge Welt, Samstag, 23. Mai 2015
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