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Halbiertes Wissen

Ein Band über Darstellung und Kenntnis der Menschenrechte

Von Johannes M. Becker *

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 strebt eine Weltordnung an, in der die Menschen »Freiheit von Furcht und Not« genießen, und in der die Menschenrechte »als das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal« angesehen werden. Nun ist hinreichend bekannt, daß die Menschenrechte überall in der Welt, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, verletzt werden. Sind sie dadurch obsolet geworden? Sommer und Stellmacher, die seit 20 Jahren Menschenrechte aus psychologischer Perspektive erforschen, verneinen dies in ihrem Buch »Menschenrechte und Menschenrechtsbildung«. Menschenrechte stellen ihrer Meinung nach nicht nur wichtige Werteorientierungen für die Sozialisation von Menschen dar, sie können zudem als positive Definition von Frieden genutzt werden.

Unteilbarkeit

Nach Kapiteln über die »Geschichte der Menschenrechte« und über »Menschenrechtsbildung« erfolgt eine umfassende Darstellung »empirischer Forschung zu Menschenrechten«. Hier werden u.a. die Ergebnissen von zwei repräsentativen Untersuchungen zu Menschenrechten in Deutschland dargestellt, die die Autoren in Koopera­tion mit Elmar Brähler, Universität Leipzig, und dem Deutschen Institut für Menschenrechte durchgeführt haben. Dabei zeigt sich eine Paradoxie: Die Verwirklichung von Menschenrechten wird in der Bevölkerung als sehr wichtig angesehen. Gleichzeitig ist das Wissen aber gering und ungenau: Von den 30 Artikeln bzw. über 100 einzelnen Rechten der Allgemeinen Erklärung kann der Durchschnittsbürger nur drei benennen. Ebenso wichtig ist der Befund einer Halbierung von Menschenrechten. Die Allgemeine Erklärung enthält nicht nur bürgerliche und politische Rechte (wie z. B. Folterverbot, Asylrecht oder Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit), sondern auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (wie z. B. Recht auf Arbeit, Recht auf Bildung oder Recht auf soziale Sicherheit, einschließlich Nahrung, Wohnung und ärztliche Versorgung). Die Daten zeigen aber, daß nur einige bürgerliche Rechte bekannt sind, wirtschaftliche dagegen kaum, einige werden sogar explizit als »kein Menschenrecht« bewertet, z. B. Schutz vor Arbeitslosigkeit, Recht auf Bildung von Gewerkschaften und Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Dies ist eine Halbierung von Menschenrechten und verstößt gegen den Grundsatz der Unteilbarkeit, der die Wichtigkeit von bürgerlichen und wirtschaftlichen Rechten betont.

Als Ursache für diese Defizite heben die Autoren – neben der unzureichenden Implementation des Themas in Schulen und Schulbüchern – die Rolle der Medien hervor. Bei umfangreichen Analysen der bundesweiten Tages- und Wochenzeitungen sowie von Fernsehsendungen zum 40., 50. und 60. Jahrestag der Menschenrechte, sehen Sommer und Stellmacher u. a. folgendes zentrales Ergebnis: Menschenrechte werden auch in der Darstellung der Medien halbiert. Dies geschieht insbesondere bei konservativen, in erheblichem Ausmaß aber auch bei liberalen, dagegen deutlich weniger bei linken Zeitungen. In konservativen Zeitungen werden zudem wirtschaftliche Rechte immer wieder als keine »richtigen« Menschenrechte dargestellt. Dies erscheint politisch durchaus plausibel. Würden wirtschaftlichen Rechte angemessen anerkannt, dann könnte bzw. müßte dies u.a. zu einer grundlegenden Kritik des kapitalistischen Wirtschaftssystems führen. Zudem werden in den Medien Menschenrechtsverletzungen hauptsächlich bei nicht-westlichen Staaten kritisiert. Der »Westen« wird explizit oder implizit als »Hüter« der Menschenrechte dargestellt. Psychologisch betrachtet dient dies zur Erhöhung des Selbstbildes, häufig aber auch zur Produktion von Feindbildern und damit auch zur »Begründung« von Kriegen, z. B. beim Jugoslawien-Kosovo- und beim Irak-Krieg.

Kritischer Umgang

Im anschließenden Kapitel »Menschenrechtsverletzungen im Spiegel der Presse« folgt eine umfangreiche Sammlung von Zitaten aus ca. zehn Jahren Zeitungsnachrichten. Hier wird deutlich, daß Leser auch in der bürgerlichen Presse Menschenrechtsverletzungen in und durch Deutschland finden können, sofern sie die Nachrichten aufmerksam verfolgen. Beispiele für entsprechende Schlagzeilen: UN werfen Deutschland Bruch des Völkerrechts vor; Karlsruhe gestattet »Ausbeutung« auf See; Kinderarmut nimmt zu.

Das Buch schließt mit einem Fazit bestehend aus acht Perspektiven für die Menschenrechtsbildung, in dem nicht nur die Vermittlung eines breiten und angemessenen Verständnisses über Menschenrechte und deren Bedeutung hervorgehoben, sondern auch weitere empirische Forschung zum Thema angemahnt wird. Der Tenor ist auch hier, daß ein kritischer Umgang mit Menschenrechten gelehrt werden sollte, um ihrem Mißbrauch vorzubeugen.

Zusammenfassend werden Menschenrechte und Menschenrechtsbildung von den Autoren als potentiell bedeutsame Kräfte zur Veränderung von Gesellschaften im Sinne einer an demokratischen und solidarischen Prinzipien orientierten Gesellschaftsordnung gesehen. Das Buch überzeugt durch die Fülle der empirischen Daten –dies ist in der Menschenrechtsdiskussion sehr ungewöhnlich. In dem Buch findet sich zudem eine Vielzahl von konstruktiven Hinweisen, daß Menschenrechtsbildung effektiv möglich ist, und auch dies macht es zu einem wertvollen und lesenswerten Beitrag. Die Belege zu den Defiziten in der Menschenrechtsbildung, zur verkürzten und einseitigen Darstellung der Menschenrechte in den führenden Medien und als Folge davon zum falschen Bewußtsein über Menschenrechte sind eine beklemmende Bestandsaufnahme. Die Ergebnisse sind wohl auch damit zu erklären, daß es den Regierenden und Mächtigen nur Recht sein kann, wenn die Bevölkerung nicht umfassend über ihre Rechte informiert ist und sich nicht aktiv für sie einsetzt. Die Alternative formuliert die Jakobiner-Verfassung von 1793: »Wenn die Regierung die Rechte des Volkes verletzt, ist für das Volk… der Aufstand das heiligste seiner Rechte und die unerläßlichste seiner Pflichten.«

Gert Sommer/Jost Stellmacher: Menschenrechte und Menschenrechtsbildung - Eine psychologische Bestandsaufnahme. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2009, 239 Seiten, 29,90 Euro

* Aus: junge Welt, 10. Januar 2011


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