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Milliardengeschäft

Lydia Cacho über globalen Sexhandel

Von Lilian-Astrid Geese *

Nur wenige haben den Mut, Steine umzudrehen, unter denen Skorpione lauern, und da zu recherchieren, wo zu viel Neugier das eigene Leben kosten kann. Anna Politkowskaja war eine dieser couragierten Journalistinnen, die weiter fragte, als es die Mächtigen erlauben wollten, und deshalb ermordet wurde. Kein Zufall, dass einem ihr Name einfällt, wenn man Lydia Cacho liest. Für »Los Demonios del Edén« (dt.: »Die Dämonen des Paradieses«), durch das 2005 ein mexikanischer Kinderporno- und Pädophiliering aufflog, wurde sie verhaftet, gefoltert und einem jahrelangen Gerichtsverfahren unterzogen. Die Erfahrungen aus dieser Zeit verarbeitete sie 2007 in ihren »Memorias de una infamia« (dt.: »Memoiren eines Skandals«). Doch Einschüchterung ist kein Mittel, die 1963 in Mexico City geborene Journalistin mundtot zu machen.

Nach mehreren Jahren akribischer und gefährlicher Recherche ist jetzt aus ihrer Feder ein Buch über das Milliardengeschäft Menschenhandel erschienen. »Sklavinnen der Macht. Eine Reise ins Zentrum des globalen Sexhandels mit Frauen und Mädchen« lautet der prägnantere Originaltitel.

Cachos Ausgangsthese: »Wenn wir verstehen wollen, wie die Versklavung von Menschen funktioniert, müssen wir uns zunächst klarmachen, dass die Prostitution nichts anderes ist als ein Gewerbe, und die Frauen, Mädchen und Jungen dessen Produkt.« 46 Länder hat sie besucht, mit Opfern, Helfern und – verdeckt – auch mit Tätern gesprochen. Die Wahrheit, die sie bloßlegt: Der Handel mit Frauen und Mädchen zum Zweck der sexuellen Ausbeutung ist Sklavenhandel, ist die moderne Variante des »trata de blancas« (Handel mit weißen Frauen), den vor langer Zeit Piraten quasi im Nebenjob betrieben, als sie Frauen entführten, um sie an Bordelle in anderen Ländern zu verkaufen. Aufklärung, internationale Abkommen und Gesetze haben offenbar nichts daran geändert, dass weltweit Frauen und Mädchen als Ware gehandelt, ausgebeutet, drogenabhängig gemacht und zum Sex gezwungen werden.

Lydia Cacho zeigt auf, dass die Sexindustrie eine höchst lukrative Branche ist, ein perfektes Unternehmen, das nicht nur funktioniert, weil die »CEOs« und Manager kompetent und/oder mafiosbrutal vorgehen, sondern weil korrupte Politiker, Polizisten und Staatsanwälte, geschmiert mit Geld oder »in Naturalien«, bestens mit verdienen. Ihr erschreckendes Urteil: »Während sich die Mafia geschmeidig wie ein Leopard bewegt, trampeln ihr ihre internationalen Verfolger wie alte und schwerfällige Elefanten hinterher.« An der Bekämpfung dieses Missstandes ist offenbar niemand wirklich interessiert.

43 Prozent der in Kambodscha geretteten Mädchen waren von ihren eigenen Müttern verkauft worden. 200 Banden von Frauen- und Mädchenhändlern zählt man in der Türkei. In Burma betreibt das Militär Lager mit entführten Shan- und Mon-Frauen und -Mädchen, die dort als Sexsklavinnen arbeiten. 60 Prozent werden zwischen dem 15. und 21. Lebensjahr zur Prostitution gezwungen. Gleichzeitig mangelt es an Frauenhäusern und Schutzwohnungen für Betroffene, an Geld für ihre Repatriierung sowie an Aufklärung in den Gesellschaften, in denen die Rückkehrerinnen als ehrlos verstoßen oder bestenfalls als Parias geduldet werden. In Mexiko und Argentinien ist so fast zwei Drittel der Opfer zur Fortsetzung der Prostitution gezwungen.

Man liest und fühlt die Wut, die Verzweiflung, die Traurigkeit, die die Journalistin selbst spürt – beim Gespräch mit den »Baby Girls« in Kambodscha, mit Mahmut, dem Polizisten in Istanbul, mit den engagierten Frauen, die versuchen, den Opfern zu helfen. 79 Prozent der weltweit »verkauften« Menschen werden zum Zweck der sexuellen Ausbeutung gehandelt; jährlich werden 1,39 Millionen Menschen sexuell versklavt – weil es eben auch die Konsumenten gibt. Allein Thailand zählt 5,1 Millionen Sextouristen pro Jahr. Lydia Cacho wehrt sich massiv gegen die verschleiernde Differenzierung von Zwangsprostitution und dem scheinbar selbst gewählten Verkauf des eigenen Körpers als Ware. Fazit des Bandes: Es gibt noch viel zu tun.

Lydia Cacho: Sklaverei. Im Inneren des Milliardengeschäfts Menschenhandel. Aus dem Spanischen von Jürgen Neubauer. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. 350 S., geb., 10,95 EUR

* Aus: Neues Deutschland, 30. Juni 2011


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