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Rational und sozial

Hans Jörg Sandkühler über Recht, Staat und Menschenwürde

Von Harald Loch *

Theoretische Abhandlungen über Staat und Recht bieten in der Regel keine kurzweilige Lektüre und sind für Nicht-Juristen häufig unlesbar. Nicht so die Publikationen des Rechtswissenschaftlers und Philosophen Hans Jörg Sandkühler, emeritierter Professor an der Universität Bremen und bis 2011 Leiter der Deutschen Abteilung »Menschenrechte und Kulturen« am europäische UNESCO-Lehrstuhl für Philosophie in Paris. Sein neues Werk ist eine von beeindruckender Sachkenntnis und sozial engagierter Urteilskraft getragene »Einführung«, die ganz im Sinne von Kant vom Vorrang des Rechts vor der Moral ausgeht. Sandkühler fordert Neutralität des Rechts gegenüber Religionen, Weltanschauungen und Ideologien. Es geht ihm um ein Recht, das – gestützt auf Gustav Radbruch – »nachmetaphysisch dem Maßstab der Gerechtigkeit« entspricht.

Grundlage der von Sandkühler präsentierten Vergleiche diverser Rechtsordnungen sind die Menschwürde und die auf verschiedenen internationalen Ebenen normierten Menschenrechte. Der Autor geht von einem Pluralismus von Kulturen und Politik aus und weist Wege, wie vermieden werden kann, dass dieser Pluralismus in Beliebigkeit ausartet: »Die Rationalität, mit der dem Pluralismus- und Relativismus-Problem zu begegnen ist, ist vor allem die Rationalität des Rechts.« Ausgangspunkt sind stets die Menschenwürde und die »Einheit politischer, sozialer, ökonomischer und kultureller Menschenrechte«.

Sandkühler setzt sich u, a, mit Staats- und Rechtstheoretikern auseinander, die Diktaturen gestützt haben. Besonderes Gewicht hat hier die durch Quellenzitate untermauerte Abrechnung mit Carl Schmitt, der nicht einfach »nur ein Mitläufer, sondern ein aktiver antisemitischer Ideologe des NS-Regimes« war, sowie mit dessen Schüler Ernst Forsthoff.

Sandkühler zitiert aus der Korrespondenz zwischen der Firma BAYER und dem stellvertretenden Kommandanten des KZ Auschwitz über den Ankauf von etwa 150 weiblichen Häftlingen für Menschenversuche mit Schlafmitteln und über das Feilschen um deren Preis. BAYER konnte die von der SS geforderten 200 RM auf 170 RM pro Kopf drücken. In jenem Dokument heißt es abschließend lakonisch-zynisch: »Die Versuche wurden gemacht. Alle Personen starben.« Diese mörderische Kumpanei hat den Konzern in Nachkriegsdeutschland nicht belastet. Der Jurist Sandkühler klagt zudem die ungebrochene Karriere NS-belasteter Vertreter seiner Zunft in Westdeutschland an. Sodann untersucht er, inwieweit die Bundesrepublik seiner Grundforderung nach »Recht und Staat nach menschlichem Maß« entsprach oder eben nicht. Er weiß um Defizite in der nationalen wie weltweiten Durchsetzung der international verbindlich normierten Menschenwürde und Menschenrechte. Und er befürchtet: »Die Demokratie kann scheitern. Sie wird scheitern, wenn nicht die Menschenrechte auf ihrem jeweils entwickelten Niveau die Herrschaft des Rechts und den Staat bestimmen.«

Wie eine traurige Bestätigung von Sandkühlers kritischer Studie erscheint das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das die Entschädigungsforderung von 34 Opfern und Hinterbliebenen des NATO-Luftangriffs auf das serbische Dorf Varvarin 1999 ablehnt. Was den Berliner Rechtanwalt Wolfgang Kaleck zum Kommentar veranlasste: »Es ist skandalös, dass die Geschädigten dieses Kriegsverbrechens auch knapp fünfzehn Jahre nach der Bombardierung noch keinen gerechten Ausgleich ihrer Schäden erhalten und dies, obwohl die Bundesrepublik Deutschland und ihre NATO-Bündnispartner für sich in Anspruch nehmen, den Krieg aus humanitären Gründen geführt zu haben.«

Hans Jörg Sandkühler: Recht und Staat nach menschlichem Maß. Einführung in die Rechts- und Staatstheorie in menschenrechtlicher Perspektive. Velbrück Verlag, Weilerswist 2013. 688 S., geb., 49,90 €.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 5. September 2013


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