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Korpsgeist, Lügen, Gedächtnislücken

Warum Menschenrechtsorganisationen eine unabhängige Stelle für die Opfer von Polizeigewalt in Deutschland fordern

Von Rolf Gössner *

Nach einer Studie der Universität Halle haben zwischen 1993 und 2003 bundesweit 128 Menschen in Polizeigewahrsam ihr Leben verloren. Doch Verurteilungen von Polizisten sind in Deutschland die große Ausnahme.

Polizeiübergriffe sind keine Seltenheit in Deutschland, die Bundesrepublik wurde deswegen mehrfach international gerügt. Für einen Rechtsstaat ist es besonders heikel, wenn bei der Polizei, dem mit weitreichenden Kompetenzen ausgestatteten Kern des Gewaltmonopols, Fehlverhalten, Übergriffe und unverhältnismäßige Gewalt zu verzeichnen sind. Erst recht, wenn dieses Verhalten nicht ausreichend geahndet wird.

Fremdenfeindliche und rassistische Einstellungen von Polizisten sowie institutionelle Diskriminierungen und Menschenrechtsverletzungen sorgen immer wieder für Schlagzeilen - etwa im Zusammenhang mit dem Verbrennungstod des Asylbewerbers Oury Jalloh in einer Dessauer Polizeizelle und dem kläglich gescheiterten Versuch einer gerichtlichen Aufklärung. Immer wieder kommt es vor, dass Flüchtlinge besonders aus Afrika, aber auch Obdachlose, Drogenabhängige oder Prostituierte, in Polizeigewahrsam schwer verletzt werden oder sogar ums Leben kommen. Nach einer Studie der Universität Halle aus dem Jahr 2011 haben zwischen 1993 und 2003 bundesweit 128 Menschen den Polizeigewahrsam nicht lebend verlassen; dabei hätte wohl jeder zweite Todesfall verhindert werden können.

Die Polizei unterliegt einer mehrfachen Kontrolle, die sich in der Praxis aber als ungenügend erweist. Das Versagen dieser Kontrolle zeigt sich insbesondere bei den Versuchen, polizeiliches Fehlverhalten, Übergriffe, Brechmitteleinsätze und Todesschüsse vor Strafgerichten aufzuarbeiten.

Viele Polizeiopfer haben keine »Beschwerdemacht« - gerade Angehörige sozialer Randgruppen, die sich mangels Kenntnissen oder aus Angst vor Schikanen nicht wehren. Häufig sieht sich das Opfer bei eigener gerichtlicher Gegenwehr selbst zum Täter befördert: »Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte« oder »Falsche Anschuldigung« lauten die polizeilichen Gegenvorwürfe.

Strafermittlungen gegen beschuldigte Polizisten finden praktisch im eigenen Lager statt und erscheinen als wenig unabhängig; häufig unterbleiben ansonsten übliche Ermittlungsmaßnahmen. Kein Wunder, dass viele Verfahren gegen Polizisten schon im Ermittlungsstadium stehen bleiben.

Selbst vor Gericht haben Polizisten gute Chancen, ungeschoren davonzukommen. Zumeist ist die Beweislage für das Opfer schlecht: keine eigenen Zeugen, oft mehrere Gegenzeugen der Polizei.

Bei Demonstrationen ist eine Identifizierung der uniformierten und behelmten Polizisten kaum möglich. Und Richter neigen immer noch dazu, Polizeibeamten mehr zu glauben als »Normalbürgern« oder gar sozialen und politischen Außenseitern.

Fehlverhalten von Polizeibeamten wird in Strafverfahren allenfalls individuell geahndet. Führungspersonal und mitursächliche Strukturen spielen maximal Nebenrollen, sodass apparative Missstände und kollektives Fehlverhalten unbeachtet bleiben. Der nach wie vor anzutreffende Polizeikorpsgeist, der sich in Zeugenabsprachen manifestiert, tut ein Übriges. So war auch das Verfahren um den Verbrennungstod von Oury Jalloh geprägt von Gedächtnislücken und Lügen, Widersprüchen und Vertuschungen der Polizeizeugen sowie von unterlassenen Ermittlungen und verschwundenen Beweisstücken.

Die strukturellen Kontrollmängel führen zwangsläufig zu Sanktionsimmunität von Polizeibeamten. Internationale Gremien rügten mehrfach, dass es hierzulande für Beschwerden gegen die Polizei keine wirklich unabhängige Instanz gebe. Deshalb forderten dieses Jahr fünf Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen - unter ihnen Amnesty International, Humanistische Union und Internationale Liga für Menschenrechte - unabhängige Kontrollinstanzen mit weitreichenden Befugnissen und ausreichenden Ressourcen, um endlich eine Verbesserung der Kontrolle des Polizeiapparates und von rechtswidrigem Polizeihandeln zu schaffen.

* Der Anwalt und Publizist Rolf Gössner ist Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte.

Aus: neues deutschland, Freitag, 14. Dezember 2012


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