Auf den Punkt kommen
Pierre Kaldor machte die Menschen mutig
Von Horst Bethge *
Am Freitag vor einer Woche (5. März) starb Pierre Kaldor im 98. Lebensjahr in Paris. Er war ein Anwalt für die Freiheit der Menschen. Als Resistance-Kämpfer gehörte er 1944 zu den Befreiern des französischen Justizministeriums von Vichy-Leuten und Nazibesatzern. Später war er Strafverteidiger von angeklagten Führern der Befreiungsbewegung aller französischen Kolonien, vor allem Verteidiger vor Militärgerichten während des Algerien-Krieges. Als aktiver Kommunist war er juristischer Berater von Gewerkschaften und linksregierter Kommunen in Frankreich, Beistand in vielen Berufsverbotsprozessen vor deutschen Verwaltungsgerichten und Sachverständiger in Berufsverbotsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof in Strasbourg. Kaldor gründete auch das französische »Komitee für die Meinungsäußerungsfreiheit in der BRD«. Bis zuletzt war er aktiv im Komitee zur Rehabilitierung von Ethel und Julius Rosenberg, deren Prozeßakten er vom Englischen ins Französische übersetzte.
Bei den Prozessen ging es ihm zuerst immer um den Menschen, der vor Gericht stand, ob als Angeklagter oder Kläger. Das waren für ihn niemals »Fälle«, sondern Individuen in historischen und politischen Kontexten, deren subjektive Widerstandskraft er stärken wollte. Betroffene zu ermutigen, Solidarität zu erzeugen und, zu organisieren – das war ihm wichtig, durch kleine und große Gesten, durch persönlichen Zuspruch, durch Ferienaufenthalte für die Kinder oder Geschenkpakete zu Weihnachten. Der Goethe-Spruch, den Georgi Dimitrow in einem Brief aus dem deutschen Gefängnis am 16.8.1933 zitierte, paßt auch auf Pierre Kaldor: »Gut verloren – etwas verloren, Ehre verloren – viel verloren, Mut verloren – alles verloren«. Damit dies den Menschen nicht widerfahre, dafür arbeitete Pierre Kaldor sein Leben lang.
Wenn wir salopp »Meinungsfreiheit« sagten, sprach er dezidert von »Meinungsäußerungsfreiheit«, Koalitionsrecht nannte er »kollektive Interessenwahrnehmung«, Bürger übersetzte er mit »citoyen«, nicht mit »bourgeois«, »Fortschritt« übersetzte er mit »sozialem Fortschritt« und Recht auf Frieden hieß bei ihm »Recht auf eigenständige, emanzipatorische Gesellschaftsentwicklung«. Denn es ging ihm um Konkretion völkerrechtlicher Normen, nicht um deren scholastische Zitierung. Wer ihn je in einem Plädoyer oder bei einem Vortrag gehört hat, erinnert sich an seine bildhafte Sprache, die analytische Klarheit, seinen verschmitzten, hintersinnigen Humor und seinen eloquenten Charme. Leicht fahrig die Stichwortzettel ordnend, kam er auf den Punkt, der den politischen oder den Verfahrensgegner nötigte, auf seine Argumente einzugehen.
Pierre Kaldor machte die Menschen mutig, wissend, daß Mut das Ergebnis eines solidarischen Prozesses ist, aber auch die messerscharfe Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse voraussetzt. Er selbst war mit einer Strickleiter, die ihm seine Frau Charlotte besorgt hatte, über eine sieben Meter hohe Mauer aus dem Nazigefängnis ausgebrochen– sie ist noch heute im Resistance-Museum bei Paris ausgestellt.
Pierre Kaldor fragte immer konkret nach Name, Adresse und Hausnummer von denen, die Freiheit und Demokratie versagen, einschränken oder aufheben. Aber er hakte auch unerbittlich nach bei denen, die Hilfe und Solidarität vermissen ließen, obwohl sie sie hätten leisten können, im Kleinen wie im Großen. Das zwang jeden dazu, aus der Anonymität der allgemeinen Repression herauszutreten.
* Aus: junge Welt, 13. März 2010
Der Autor dieses Nachrufs, Horst Bethge, war lange Jahre Sprecher der Initiative »Weg mit den Berufsverboten«.
Am 28. März 2010 nimmt Horst Bethge teil an der Matinee "Blick zurück nach vorn - 50 Jahre Ostermarsch". (Siehe unseren Veranstaltungshinweis.)
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