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Guantánamo: "Die Gerichte der Vereinigten Staaten sind zuständig, die Rechtmäßigkeit der Haft von ausländischen Gefangenen zu überprüfen"

Oberstes Gericht in den USA fällt weit reichende Entscheidung - Schwere Niederlage für Bush - Ein Blick in die Presse

In einer weit reichenden Entscheidung hat das Oberste Gericht in den USA am 28. Juni 2004 die Zuständigkeit von US-Gerichten für das Gefangenenlager Guantánamo auf Kuba bestätigt. Nach der Entscheidung können die Gefangenen die Rechtmäßigkeit ihrer Inhaftierung vor US-Gerichten überprüfen lassen. Das Urteil ist eine Niederlage für die Regierung von US-Präsident George W. Bush.

Bushs Regierung betrachtete die Inhaftierten - unter Verweis auf den Kampf gegen den Terrorismus - als "feindliche Kampfteilnehmer" und verweigerte ihnen die Rechte von Kriegsgefangenen verweigerte. Erst in jüngster Zeit hatte das Pentagon Guantánamo-Häftlingen Militäranwälte zugewiesen.

Die Entscheidung des Supreme Court fiel mit sechs zu drei Richterstimmen. Das Gericht urteilte: "Die Gerichte der Vereinigten Staaten sind zuständig, die Rechtmäßigkeit der Haft von ausländischen Gefangenen zu überprüfen, die bei Kampfhandlungen im Ausland gefangen und auf der Basis Guantánamo inhaftiert wurden." Laut Supreme Court erstreckt sich die Zuständigkeit von US-Gerichten auch auf Ausländer, die auf Territorium festgehalten werden, wo zwar nicht in vollem Umfang US-Hoheitsrechte gelten, aber US-Gerichtsbarkeit herrscht.

Das Oberste Gericht hob damit die Entscheidung eines US-Bundesgerichts auf. Die Bundesrichter hatten die Klagen der Guantánamo-Gefangenen Shafiq Rasul und Fawzi Khalid Abdullah Fahad al-Odah unter Verweis auf ihre fehlende Zuständigkeit abgewiesen. Rasul war einer von fünf Briten, die im März von den USA an die britischen Behörden überstellt wurden. Insgesamt waren neun britische Staatsangehörige in dem US-Gefangenenlager. Den verbliebenen vier soll vor US-Militärtribunalen der Prozess gemacht werden.

Mit ihrem Urteil lagen die Bundesrichter auf einer Linie mit der Auffassung der US-Regierung. Die vertrat bislang die Ansicht, dass für Häftlinge in Guantánamo die rechtlichen Garantien der US-Verfassung nicht gälten, weil die Basis außerhalb des Hoheitsgebiets der Vereinigten Staaten liege.

In einer anderen Entscheidung urteilte der Supreme Court, dass einem US-Bürger, der als "feindlicher Kampfteilnehmer" heimlich festgehalten werde, das Recht auf gerichtliche Anhörung zustehe.

Derzeit sitzen mehr als 600 Häftlinge aus 42 Ländern in dem US-Lager auf Kuba ein. Die meisten Gefangenen sind bereits seit rund zwei Jahren in Guantánamo Bay. Ihnen werden Verbindungen zu den radikalislamischen Taliban und zum El-Kaida-Terrornetzwerk von Osama bin Laden vorgeworfen. Die US-Regierung verweigert den Inhaftierten den Status und die Rechte von Kriegsgefangenen.

Quelle: Nachrichtenagenturen, 28.06.2004

Kommentare

Das Guantánamo-Urteil des Obersten Gerichts fand in den USA, aber auch hier zu Lande nicht das große Echo in den Zeitungen, wie man es vielleicht erwarten konnte. Das mag an der Gleichzeitigkeit der vorgezogenen Übertragung der "Souveränität" an die irakische Regierung gelegen haben, wie der Berliner "Tagesspiegel" vermutet ("Rückkehr des Rechts"):

(...) Wenn schon eine Schlappe erleiden, dann soll sie wenigstens nicht die Schlagzeilen beherrschen, mag sich die US-Regierung gedacht haben. Hat sie womöglich gewusst, wann das Oberste Gericht in Washington sein Urteil über die Gefangenen von Guantanamo fällt? Die Nachrichten jedenfalls beherrschte am Montag der Coup des vorgezogenen Machttransfers im Irak. Der Rechtsspruch gegen die Machtanmaßung des Weißen Hauses ließ George W. Bush und Konsorten einigermaßen ungeschoren.
Das Verdikt zerfällt in zwei Teile: Der amerikanische Präsident kann Ausländer und US-Bürger ohne Anklage oder Prozess zu feindlichen Kämpfern erklären, meint eine Mehrheit der neun Oberrichter. Damit kann er ihnen auch den Status von Kriegsgefangenen verwehren. In diesem Punkt folgten die Juroren der Argumentation der Regierung. Andererseits aber dürfen den Inhaftierten nicht unendlich lange alle Appellationsmöglichkeiten vor amerikanischen Gerichten verweigert werden. Sie haben das Recht auf eine richterliche Anhörung. Auch der Marinestützpunkt Guantanamo fällt unter die Zuständigkeit amerikanischer Jurisprudenz. (...) Die Justiz hat die Politik in ihre Schranken verwiesen.

Tagesspiegel, 29. Juni 2004

In der Frankfurter Rundschau kommentiert Arnd Festerling das Urteil. Sein Fazit: "So weit also hat diese Regierung das Land gebracht: Ein Erfolg des amerikanischen Rechtsstaates ist eine Niederlage für den US-Präsidenten." Außerdem schreibt Festerling:

(...) Ein amerikanischer Bürger hat das Recht, von einem amerikanischen Gericht gehört zu werden.
Und: Gleiches gilt für rund 600 Häftlinge in Guantánamo, die keine US-Staatsbürgerschaft haben. Auch sie können vor amerikanischen Gerichten ihre Gefangenschaft und Behandlung, mithin ihren rechtlosen Status überprüfen lassen. Mit offenem Ergebnis freilich. Die Gerichte können ebendiesen Status schließlich auch bestätigen.
Denn das Oberste Gericht hat dem US-Präsidenten nicht das Recht abgesprochen, Gefangene nach Gutdünken und aus präsidialer Vollmacht heraus zu rechtlosen "Feindlichen Kämpfern" zu erklären. Es hat allein festgestellt, dass der Kriegszustand kein Blankoscheck für den Präsidenten der Vereinigten Staaten im Umgang mit Gefangenen ist.
Was also mit den Häftlingen passiert, ist weiter ungewiss, immerhin jedoch haben sie sich das Recht auf ein Verfahren erstritten." (...)

Frankfurter Rundschau, 29. Juni 2004

Die Süddeutsche Zeitung berichtete auf Seite 1 über den Urteilsspruch. Die Niederlage für Bush könnte sich unter bestimmten Umständen in einen Vorteil verwandeln, schreibt Wolfgang Koydl:

(...) die Richterin Sandra Day O'Connor, die zu den konservativen Mitgliedern des Gerichtes gezählt wird, erteilte der Argumentation der Administration in ihrer schriftlichen Urteilsbegründung eine klare Absage: "Ein Kriegszustand darf kein Blankoscheck für den Präsidenten sein, wenn es um die Rechte der Bürger unserer Nation geht", schrieb sie.
Betroffen von den Urteilen sind etwa 600 Männer, die auf dem US-Marinestützpunkt Guantanamo Bay interniert sind sowie der unter Terrorverdacht festgehaltene US-Bürger Jasser Esam Hamdi. Die Klage eines zweiten US-Bürgers, Jose Padilla, verwies das Gericht an eine untere Instanz zurück. Konkret bedeutet dies, dass all diese Verdächtigen nun das Recht haben, Klagen auf Haftprüfung vor amerikanischen Gerichten anzustrengen - darunter auch der aus Bremen stammende Türke Murat Kurnaz. Diese Entwicklung hätte die Regierung vor allem im Fall der Guantanamo-Internierten lieber vermieden.
Auf Dauer betrachtet freilich könnte sich auch dieser Spruch der obersten Richter als Segen für die Regierung erweisen. Immer deutlicher hat sich nämlich in den vergangenen Monaten herausgestellt, dass die meisten Häftlinge in Guantanamo Bay entweder überhaupt keine oder nurmehr veraltete Informationen über Terrornetzwerke haben. Andere wiederum waren überhaupt zu Unrecht auf Kuba gelandet. Bushs Problem bestand darin, diese Männer freizulassen, ohne dabei das markige Gesicht des entschlossenen Anti-Terror-Kämpfers zu verlieren. Der Oberste Gerichtshof könnte ihm nun einen Ausweg aus diesem Dilemma gewiesen haben.

Aus: Süddeutsche Zeitung, 29. Juni 2004

Torsten Krauel erinnert in der "Berliner Morgenpost" auch an voran gegange Entscheidungenn amerikanischer Gerichte:

In drei je für sich fast sensationellen Urteilen hat der Oberste Gerichtshof der USA die rechtlichen Prämissen des Weißen Hauses für den Umgang mit Terrorverdächtigen zum Teil zurückgewiesen, zum Teil weiteren Erörterungen für zugänglich erklärt. Die Fälle "Rumsfeld gegen Padilla", "Hamdi und andere gegen Rumsfeld" sowie "Rasul und andere gegen Bush" betrafen zwei US-Bürger, zwei Australier und zwölf Kuwaitis. Die Urteile des Obersten Gerichtes betreffen aber alle Untersuchungshäftlinge in Guantánamo, womöglich sogar darüber hinaus. Von der Entscheidung ist auch ein deutscher Staatsbürger aus Bremen betroffen.
Die Kläger werden im Lager Guantánamo sowie auf einer Marinebasis in Charleston/South Carolina unter dem Vorwurf terroristischer Aktivitäten beziehungsweise der Unterstützung solcher Aktivitäten festgehalten. Die rechtliche Basis dafür sieht die amerikanische Regierung in der im Herbst 2001 ergangenen Ermächtigung des Kongresses an Präsident George W. Bush, "alle notwendigen Maßnahmen" im Kampf gegen den Terror zu ergreifen.
Der Oberste Gerichtshof hat nun klar gestellt, dass die Ermächtigung des Kongresses nicht automatisch die Aussetzung der Habeas Corpus-Rechte der Häftlinge nach sich zieht. Diese Rechte billigen allen Gefangenen das Recht auf Gehör vor einem amerikanischen Gericht zu den Gründen ihrer Inhaftierung zu. Guantánamo befinde sich de facto unter amerikanischer Verwaltung und werde dies auf unabsehbare Zeit bleiben, wenn die USA es so wünschten. Die Basis sei also nicht, wie von der Regierung vorgetragen, im juristischen Sinne extraterritorial. Die Richter erstreckten das Recht auf Haftprüfung vor amerikanischen Gerichten ausdrücklich auch auf Gefangene ohne amerikanischen Pass. (...)

Berliner Morgenpost, 29. Juni 2004


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