amnesty international startet weltweite Anti-Folter-Kampagne
Neuer Bericht belegt schockierende Statistik - Presseerklärung von amnesty international
Berlin, den 18. Oktober 2000.
In den vergangenen drei Jahren wurden in 153 Ländern der Welt Menschen
von staatlichen Akteuren wie Polizisten und Mitarbeitern des Geheimdienstes gefoltert und grausam
misshandelt; in mehr als 80 Ländern starben Menschen an den Folgen der Folter; in über 70 Ländern waren
Folter und Misshandlungen weit verbreitet. Das ist die traurige Bilanz, die amnesty international (ai) zum
Auftakt einer weltweiten Anti-Folter-Kampagne zieht. "Seit amnesty international in den 60er-Jahren zum
ersten Mal Folter in Form einer weltweiten Kampagne angeprangert hat, hat sich die Welt wesentlich
verändert. Doch Folter gehört leider weiterhin zur Tagesordnung. Sie wird nicht nur in Militärdiktaturen oder
autoritären Regimen, sondern auch in demokratischen Staaten verübt. Die Methoden und die Umstände von
Folter und Misshandlungen haben sich in den vergangenen Jahren verändert. Deshalb startet amnesty
international jetzt die dritte Anti-Folter-Kampagne mit den Hauptzielen: Folter verhüten – Diskriminierung
entgegentreten – Straffreiheit überwinden." erläutert die Generalsekretärin der deutschen Sektion von
amnesty international, Barbara Lochbihler, anlässlich der Vorstellung der Kampagne in der
Bundespressekonferenz in Berlin.
Die Opfer
Nach Recherchen von amnesty international sind die meisten Folteropfer Menschen aus den ärmsten oder
am stärksten marginalisierten Gruppen der Gesellschaft, die einer Straftat verdächtigt werden. "Unsere
Kampagne will den Zusammenhang zwischen Diskriminierung und Folter deutlich machen: Es ist für den
Folterer einfacher, jemandem Schmerz zuzufügen, der einer verachteten sozialen, ethnischen oder
politischen Gruppe angehört. Diskriminierung macht den Weg frei für Folter, indem sie erlaubt, das Opfer zu
entmenschlichen und es als Objekt zu sehen, das unmenschlich behandelt werden darf." so Barbara
Lochbihler. Aus über 70 Ländern liegen Berichte über Folter von politischen Gefangenen vor, aus mehr als
60 Ländern über Folter an gewaltlosen Demonstranten.
Immigranten, Gastarbeiter und Asylsuchende, die ihre Heimat auf der Suche nach Sicherheit verlassen
haben, begegnen oft rassistischer und fremdenfeindlicher Misshandlung durch Beamte. In Ländern wir
Österreich, der Schweiz, Belgien, Deutschland und Großbritannien sind Ausländer während ihrer
Abschiebung gestorben - als Resultat der exzessiven Anwendung von Gewalt durch die Polizei oder
gefährlicher Methoden der Einschränkung der Bewegungsfreiheit.
Die Täter
Unter allen staatlichen Akteuren sind Polizisten nach Informationen der Menschenrechtsorganisation die
häufigsten Folterer, nämlich in mehr als 140 Ländern. In über 50 Ländern waren Sicherheits- oder
Geheimdienste beteiligt, in mehr als 40 Staaten Angehörige der Armee und in über 20 Ländern Mitglieder
paramilitärischer Gruppen.
Die Methoden
Schläge mit Fäusten, Stöcken, Gewehrkolben, improvisierten Peitschen, Eisenrohren, Baseballschlägern
und Elektrokabeln sind die bei weitem üblichste Folter- und Misshandlungsmethode. Vergewaltigungen und
sexueller Missbrauch von Gefangenen sind ebenfalls weit verbreitet. Die Opfer leiden an Blutergüssen,
inneren Blutungen, Knochenbrüchen, ausgeschlagenen Zähnen, verletzten Organen, lebenslangen
psychischen Störungen oder sterben an den Folgen. In über 50 Ländern werden Menschen zum Schein
hingerichtet und mit dem Tode bedroht, in mehr als 40 Staaten mit Elektroschocks misshandelt. "Die
Foltermethoden haben sich vor allem dadurch ausgedehnt, dass Repressionstechnologien verfeinert wurden.
Sie hinterlassen meist keine Spuren am Körper des Opfers. Für teilweise lebenslange Leiden oder den Tod
von Opfern tragen auch jene Industrieländer Verantwortung, welche die Herstellung und den Export von
Geräten zulassen, die speziell für den Gebrauch an Menschen geformt wurden." erinnert Barbara Lochbihler.
Verantwortung der internationalen Gemeinschaft
"Schockierender als die Statistik über Folter ist die Tatsache, dass Folter gestoppt werden könnte. Die
Regierungen der Welt sind des kollektiven Versagens anzuklagen, weil es ihnen nicht gelungen ist, das
Versprechen einzulösen, das sie vor mehr als 50 Jahren mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte
abgelegt haben. Dort heißt es in Artikel 5: "Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder
erniedrigender Behandlung oder Strafe unterzogen werden."" mahnt Barbara Lochbihler.
Ein wesentlicher Bestandteil der Kampagne ist der Kampf gegen Straffreiheit: Selbst wenn Foltervorwürfe
strafrechtliche Verfahren nach sich ziehen, ist der Prozentsatz der daraus resultierenden Verurteilungen
verschwindend gering. "Die Straffreiheit vermittelt Folterern die Botschaft, dass man sie mit ihrem Tun
unbehelligt davonkommen lässt. Sie leistet damit der Folter massiv Vorschub." so Barbara Lochbihler.
Forderungen an die Bundesregierung
Die Menschenrechtsorganisation hat aus Anlass der Kampagne einen 12-Punkte-Forderungskatalog an die
Bundesregierung aufgestellt. Er enthält unter anderem die Forderung nach Verbot von Abschiebung bei
drohender Folter: Nach Schätzungen von amnesty international sind 20 bis 25 Prozent der in Deutschland
lebenden Asylbewerber und Bürgerkriegsflüchtlinge Folteropfer. "Ein Asylbewerber wird in der Regel
innerhalb der ersten Woche nach Antragstellung angehört. Gefolterte Asylsuchenden sind zu diesem
Zeitpunkt häufig akut traumatisiert und gar nicht in der Lage über die Misshandlungen zu sprechen. Es ist
geradezu zynisch, wenn dann in der Begründung für die Ablehnung eines Asylantrags dargelegt wird, es
hätte ein "konkreter und lebensnaher Sachvortrag erwartet werden können und müssen"." erläutert Barbara
Lochbihler. amnesty international hat zahlreiche Fälle aus unterschiedlichen Ländern dokumentiert, in denen
abgelehnte Asylbewerber direkt bei ihrer Rückkehr erneut festgenommen und misshandelt wurden.
Außerdem fordert die Menschenrechtsorganisation die Bundesregierung auf, die Individualbeschwerde nach
Artikel 22 der UN-Anti-Folter-Konvention anzuerkennen. "Deutschland darf nicht länger neben
Großbritannien und Irland Schlusslicht in Europa sein, sondern hat die Chance, durch Anerkennung der
Individualbeschwerde auch für andere Länder zum Vorbild zu werden." so Barbara Lochbihler.
Konzeption der Kampagne
Im Laufe der Anti-Folter-Kampagne wird amnesty international weltweit verschiedene Aspekte der Folter
thematisieren und die Aufmerksamkeit auf einzelne Opfergruppen wie Frauen oder Kinder lenken.
Schwerpunktländer der Arbeit der deutschen Sektion werden Russland und die Türkei sein. In
Zusammenarbeit mit kommunalen Gruppen werden eine Million Mitglieder von amnesty international in aller
Welt die Regierungen herausfordern, sich zu verpflichten, Folter zu bekämpfen und "Folterfreie Zonen" in
ihrem Verantwortungsgebiet zu schaffen. Mit der Nutzung von E-Mail und SMS-Mobilfunk-Textnachrichten
wird amnesty international die Kampagne auch online führen und der Öffentlichkeit die Möglichkeit geben,
Eilappelle zu Gunsten derjenigen zu senden, die einem akuten Folterrisiko ausgesetzt sind. "Nur öffentlicher
Druck kann Regierungen dazu zwingen, tätig zu werden, um Folter zu stoppen. Unsere Aufgabe ist es, zu
informieren und Gleichgültigkeit in Empörung und in konkrete Taten umzusetzen!" appelliert Barbara
Lochbihler.
Zum Auftakt der Kampagne findet in Hamburg eine Demonstration von der Moorweide zum
Gerhard-Hauptmann-Platz statt (17 Uhr). Ausstellungen zum Thema Folter sind zur Zeit in der
evangelischen Versöhnungsgemeinde in Ingelheim (bei Mainz) und ab 8.11. in der Universität Wuppertal zu
sehen. Vor der Buchmesse in Frankfurt am Main findet am 21.10. nachmittags eine Mahnwache statt.
Prominente Botschafter setzen sich mit amnesty international für eine Welt frei von Folter ein
Im Laufe der 15-monatigen Anti-Folter-Kampagne werden erstmals prominente Botschafter für amnesty
international auftreten: Zum Auftakt der Kampagne stellt die Schauspielerin Meret Becker vor der
Bundespressekonferenz in Berlin einen der Appellfälle der Menschenrechtsorganisation vor: Der 15-jährige
Brasilianer José (Name geändert) wurde im Juni 1999 in Xinguara festgenommen, beschuldigt, eine geringe
Menge Cannabis und eine kleine Handfeuerwaffe zu besitzen, und zwei Tage lang in Haft gehalten. In dieser
Zeit wurde er von Beamten der Kriminalpolizei so schwer geschlagen, dass er seither psychiatrische
Behandlung benötigt. Jüngste Berichte liefern überdies Hinweise darauf, dass José wegen einer Schädigung
seiner Hoden behandelt werden muss.. Josés Mutter Iraci Oliveira dos Santos erreichte die Freilassung
ihres Sohnes durch das Versprechen, er werde wegen der Misshandlung keine Anzeige erstatten. Entgegen
diesem Versprechen brachte sie den Vorfall bei der Staatsanwaltschaft zur Anzeige und machte ihn sogar
durch Auftritte im Fernsehen bekannt. Meret Becker appelliert an jeden Einzelnen, sich für José
einzusetzen und in Briefen an den Gouverneur des Bundessstaates Pará eine gründliche und unparteiische
Untersuchung der Foltervorwürfe sowie eine Entschädigung von José und seiner Mutter zu verlangen.
Vor der Pressekonferenz enthüllte Meret Becker auf dem Gelände der Stiftung "Topographie des Terrors"
das Motiv der Kampagne: eine lange Narbe, die mit der Aufschrift "Es wird weltweit ungehindert gefoltert,
solange die Mehrheit glaubt, als Einzelner nichts dagegen tun zu können." 'genäht' ist. amnesty
international und die Stiftung wollten mit der Wahl dieses Ortes ein Zeichen setzen, dass die Menschen aus
der Vergangenheit lernen müssen und für die Gestaltung der Zukunft verantwortlich sind.
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