Menschenrechte an der EU-Außengrenze
Das Deutsche Institut für Menschenrechte legt ein Policy Paper mit "Empfehlungen" an die Bundesregierung vor (Wortlaut)
Auf EU-Ebene werden derzeit Leitlinien über die Behandlung von
Personen erarbeitet, die bei Abfang-, Kontroll- und Rettungsmaßnahmen
an und jenseits der südlichen EU-Seegrenze angetroffen werden.
Hintergrund ist einerseits die im Rat erarbeitete
EU-Grenzschutzstrategie, welche die Vorverlagerung von
Migrationskontrollen auf See und in die Küstengewässer von
Drittstaaten vorsieht. Andererseits bestehen zwischen den
EU-Mitgliedstaaten hinsichtlich der menschenrechtlichen
Verpflichtungen gegenüber den betroffenen Personen jedoch
Meinungsverschiedenheiten, insbesondere im Hinblick auf die
völkerrechtlichen Verbote der Zurückweisung. Das Deutsche Institut
für Menschenrechte (DIMR) möchte zur Klärung der zugrunde liegenden
menschenrechtlichen Fragen beitragen. Das Policy Paper, das wir im Folgenden dokumentieren, fasst die wesentlichen Ergebnisse eines vom Deutschen Institut für Menschenrechte erstellten Gutachtens zusammen und formuliert
Empfehlungen an die Bundesregierung. Das 73 Seiten starke und nur auf Englisch erschienene Gutachten ist als pdf-Datei hier herunterzuladen: externer Link zum DIMR
Policy Paper No. 8
Deutsches Institut für Menschenrechte
September 2007
Menschenrechte an der EU-Außengrenze
Empfehlungen an die Bundesregierung>
Von Ruth Weinzierl *
I. Politischer Kontext
Auf EU-Ebene wird derzeit ein Entwurf für Leitlinien
erarbeitet, die die Verpflichtungen gegenüber Personen
verdeutlichen sollen, die bei Abfang-, Kontroll- und
Rettungsmaßnahmen an und jenseits der südlichen
Seegrenze der EU angetroffen werden. Die Leitlinien sind
Gegenstand von Beratungen im Rat der EU und der
Arbeit der Kommission.
Hintergrund sind einerseits vorverlagerte Migrationskontrollen,
die auf der Grundlage der im Rat erarbeiteten
EU-Grenzschutzstrategie [1] bereits durchgeführt
werden.
Solche hinter die Staatsgrenzen verlagerten
Migrationskontrollen
finden auch im Rahmen gemeinsamer
EU-Einsätze statt, die von der EU-Grenzschutzagentur
FRONTEX koordiniert werden. Daran ist auch
Deutschland beteiligt.
Andererseits bestehen zwischen den Mitgliedstaaten
Meinungsverschiedenheiten über die menschenrechtlichen
Verpflichtungen gegenüber den Personen, die bei
Abfang-, Kontroll- und Rettungsmaßnahmen jenseits
der EU-Außengrenze aufgegriffen werden. Dies gilt
insbesondere im Hinblick auf die völker- und europarechtlichen
Verbote der Zurückweisung (Refoulement-
Verbote)[2]. Meinungsverschiedenheiten bestehen offenbar
über die Frage, ob Flüchtlingen, die sich auf den
Booten befinden, Zugang zu einem Verfahren in der EU
gewährt werden muss, in dem ihr Antrag auf Asyl
bzw. internationalen
Schutz geprüft wird. Unklar ist
auch, welchen EU-Staat solche menschenrechtlichen
Verpflichtungen
treffen. Würde man die Geltung der
Refoulement-Verbote in diesem Falle verneinen, würde
dies bedeuten,
dass die EU-Staaten Flüchtlinge sehenden
Auges der Gefahr gravierender Menschenrechtsverletzungen
in Drittstaaten, etwa in Libyen, aussetzen
dürften.
Die deutsche Bundesregierung hat die Frage der Geltung
der Refoulement-Verbote in diesem Zusammenhang
ausdrücklich offen gelassen. In Antworten auf
Kleine Anfragen und in öffentlichen Veranstaltungen
haben Vertreter/-innen der Bundesregierung wiederholt
die Behauptung aufgestellt, die Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten
sei der Ansicht, das Refoulement-Verbot
aus der Genfer Flüchtlingskonvention gelte auf Hoher
See nicht. Auf Nachfrage wurde aus dem Bundesministerium
des Innern mitgeteilt, die Geltung der Refoulement-
Verbote aus (anderen) Menschenrechtsabkommen
wolle man noch prüfen.
Das Deutsche Institut für Menschenrechte möchte in
diesem Zusammenhang zur Klärung bestehender menschenrechtlicher
Fragen beitragen. Es hat im Juli 2007
ein Gutachten zu den Anforderungen der Menschenrechte
und der EU-Grundrechte beim Schutz der EU-Außengrenze
öffentlich gemacht [3]. Im Herbst 2007 wird eine
umfassende Studie [4] folgen, in die das Gutachten als
Teilstück integriert ist. Aus Anlass der Verhandlungen
über die diesbezüglichen Leitlinien auf EU-Ebene werden
im vorliegenden Policy-Paper die wesentlichen Ergebnisse
des Gutachtens dargestellt und Empfehlungen
an die Bundesregierung für die aktuellen Verhandlungen
ausgesprochen.
II. Das Sterben an den südlichen Seegrenzen
Täglich erreichen uns Berichte über Menschen, die bei
dem Versuch sterben, die EU zu erreichen. Viele von ihnen
ertrinken an oder jenseits der südlichen Seeaußengrenze
der EU im Mittelmeer. Daneben berichten die Medien
über die mit der Aufnahme von Flüchtlingen völlig überlasteten
Randstaaten der EU, die sich über die mangelhafte
Unterstützung der anderen EU-Staaten beklagen.
Obwohl das internationale Seerecht völlig unbestritten
sowohl private als auch staatliche Schiffe zur Seenotrettung
verpflichtet, wird Seenotrettung in vielen Fällen
von privaten oder öffentlichen Schiffen nicht oder zu
spät geleistet. In manchen Staaten wird die Leistung
der völkerrechtlich gebotenen Seenotrettung sogar als
strafrechtliches Delikt der Beihilfe zur illegalen Einreise
verfolgt.
Berichte von Nichtregierungsorganisationen über Misshandlungen
von Flüchtlingen, Kollektivausweisungen
und sogar das Aussetzen in lebensbedrohliche Umstände
auf See mehren sich.
Die fehlende Klarheit über die Verpflichtungen, die Zuständigkeiten
und die Lastenteilung beim Menschenrechts- und Flüchtlingsschutz in der EU senkt die Bereitschaft zur Seenotrettung und zur menschenwürdigen
Behandlung der betroffenen Menschen offensichtlich
erheblich.
III. Anforderungen aus den Menschenrechten und den EU-Grundrechten
1. Anträge auf internationalen Schutz in Küstengewässern sowie an Land- und Seegrenzen
Sofern in den Küstengewässern [5] oder an den Seegrenzen [6]
Personen um internationalen Schutz ansuchen,
sind diese – unabhängig von der Situation und der Form
des Schutzersuchens – genauso zu behandeln wie Personen,
die einen Schutzantrag zu Lande stellen. Dies
ergibt sich aus Art. 3 der EU-Asylverfahrensrichtlinie [7]
und aus den Verboten der Zurückweisung (Refoulement-
Verbote). Die Refoulement-Verbote untersagen eine
Ausweisung, Zurückweisung, Abschiebung oder Auslieferung
einer Person in einen Staat, in dem ihr elementare
Menschenrechtsverletzungen drohen. Refoulement-
Verbote ergeben sich aus dem Völkergewohnheitsrecht,
den EU-Grundrechten [8], der Europäischen
Menschenrechtskonvention (EMRK), Art. 33 Absatz 1
der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), Art. 3 Absatz 1
der UN-Anti-Folter-Konvention [9] und aus Art. 7 des UN-Zivilpaktes [10].
In diesem Zusammenhang sind die Staaten
auch verpflichtet, zu prüfen, ob eine Gefahr solcher elementarer
Menschenrechtsverletzungen in Folge von
Kettenabschiebungen droht.
Aus der Geltung der Refoulement-Verbote an der Grenze
ergibt sich die Verpflichtung, den betreffenden Personen
jedenfalls zum Zweck der Prüfung des Antrags
auf internationalen Schutz die Einreise zu gestatten und
sicheren Aufenthalt zu gewähren. Ein solcher sicherer
Aufenthalt, mit dem die Menschenrechte der Antragsteller
geschützt werden, kann faktisch nur auf dem
Staatsgebiet gewährt werden. Davon geht auch die
Asylverfahrensrichtlinie aus, die den Antragstellern
grundsätzlich das Recht verleiht, bis zur Prüfung ihres
Antrags im Mitgliedstaat beziehungsweise an der
Grenze oder in der Transitzone zu verbleiben.
Anderes wäre vor dem Hintergrund der Refoulement-
Verbote theoretisch nur dann denkbar, wenn ein Staat
existiert, der den Antragsteller aufnimmt und in dem
dem Antragsteller keine elementaren Menschenrechtsverletzungen
drohen. Diese Konstellation entspricht
dem Konzept der Drittstaatenreglung in der Variante
der so genannten „super safe countries“, die nach dem
Vorbild der deutschen Drittstaatenregelung als Modell
Eingang in die Asylverfahrensrichtlinie gefunden hat.
Der UNHCR und die internationale Fachliteratur stehen
der Vereinbarkeit solcher Drittstaatenregelungen mit
dem Völkerrecht nach wie vor sehr kritisch gegenüber
– insbesondere im Hinblick auf die Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR),
der eine individuelle Prüfung jedes Antrags auf internationalen
Schutz verlangt. Jedenfalls aber ist es den
Vertretern der Mitgliedstaaten im Rat bisher nicht
gelungen, die in der Asylverfahrensrichtlinie vorgesehene
verbindliche Liste sicherer Drittstaaten aufzustellen. Denn derzeit existieren keine Staaten außerhalb der EU, die den Anforderungen an die erforderliche Sicherheit des Drittstaates entsprechen und nicht ohnehin
schon an das Dubliner System angeschlossen sind. Daher
ist die Zurückweisung ohne jegliche Antragsprüfung
in einen Drittstaat außerhalb der EU derzeit keinesfalls
zulässig. Im Hinblick auf die Mittelmeeranrainer
und die westafrikanischen Staaten wird sich dies auch mittelfristig
nicht ändern.
Die Grund- und Menschenrechte verlangen, die Durchsetzbarkeit
der Refoulement-Verbote durch Verfahrensrechte
und Rechte auf effektiven Rechtsschutz
abzusichern. Erforderlich sind danach insbesondere
eine eingehende und individuelle inhaltliche Antragsprüfung,
das Recht auf anwaltliche Vertretung und
Kontakt zum UNHCR sowie das Recht auf ein wirksames
Rechtsmittel mit aufschiebender Wirkung, das den
Aufenthalt im Land bis zur Entscheidung über das
Rechtsmittel ermöglicht. Da bei menschenrechtlicher
Betrachtung die Schwere und Irreversibilität des durch
eine Zurückweisung drohenden Schadens entscheidend
ist, bleibt für eine Einschränkung der Verfahrens- und
Rechtsschutzgarantien an der Grenze kein Raum.
Die genannten Anforderungen an den Verfahrens- und
Rechtsschutz können auf einem Schiff aus praktischen
Gründen nicht eingehalten werden. Stellen Menschen
Anträge auf internationalen Schutz an der Seegrenze
oder in den Küstengewässern, so ist den Antragstellern
die Ausschiffung und der Aufenthalt auf dem Festland bis
zur Entscheidung über das Rechtsmittel zu gestatten.
2. Menschenrechtliche Verpflichtungen jenseits der EU-Seegrenzen (Hohe See und
Küstengewässer von Drittstaaten)
Gewichtige Argumente sprechen für die Geltung des
Refoulement-Verbotes aus der GFK bei Abfang-, Kontroll-
und Rettungsmaßnahmen jenseits der Staatsgrenzen.
Diese Argumente ergeben sich aus dem Wortlaut
und dem Sinn und Zweck der GFK. Die Argumentation
wird auch vom UNHCR – als der für die Wahrung
und Förderung der GFK zuständigen Internationalen
Organisation – gestützt. Es finden sich keine rechtlich
relevante einheitliche Übung und Rechtsansicht
der Vertragsstaaten und keine eindeutige historische Interpretation,
die zum Ausschluss der extraterritorialen
Geltung führen würden.
Nicht anwendbar ist das Refoulement-Verbot aus der
GFK auf Personen, die sich noch in den Küstengewässern
ihres Staates befinden. Auf diese können aber
Refoulement-Verbote aus den Menschenrechtsabkommen
Anwendung finden.
Die EMRK und die UN-Menschenrechtsabkommen sind
auch auf Schiffe des Grenzschutzes oder der staatlichen
Seenotrettung anwendbar, die sich jenseits der eigenen
Hoheitsgewässer bewegen. Daraus ergibt sich für die
Staaten die Pflicht, alle in diesen Abkommen enthaltenen
Rechte zu respektieren.
Daher dürfen Handlungen der auf den Schiffen befindlichen
Hoheitsträger nicht zu Menschenrechtsverletzungen
führen. Angesichts der Probleme in der Praxis ist
insbesondere darauf hinzuweisen, dass neben der seerechtlichen
Pflicht zur Seenotrettung Migrationskontrollen
nicht so durchgeführt werden dürfen, dass –
etwa durch Kollisionen mit kleinen Flüchtlingsbooten
oder das Abdrängen seeuntüchtiger Boote auf Hohe
See – Menschen zu Schaden kommen. Bei allen ihren
Maßnahmen bindet die EU-Mitgliedstaaten das Verbot
der Diskriminierung, so dass eine unterschiedliche
Behandlung der Migrierenden etwa wegen ihrer ethnischen
oder sozialen Herkunft menschenrechtswidrig
ist. Diese Verpflichtung aus dem Diskriminierungsverbot
ergibt sich sowohl aus dem Schengener Grenzkodex
als auch aus den EU-Grundrechten, dem Internationalen
Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Rassendiskriminierung
und dem internationalen Seerecht.
Die Frage, in welchen Fällen neben der seerechtlichen
Verpflichtung zur Seenotrettung weitergehende Rettungspflichten
gegenüber Schiffbrüchigen bestehen, die
im Rahmen der Überwachung der See entdeckt werden,
wird hier nicht abschließend geklärt. Diese Frage
wird aber in Hinblick auf die geplante Weiterentwicklung
der radar- und satellitengestützten Überwachung
der See praktisch relevant werden.
Im Bezug auf Personen, die des internationalen Schutzes [11]
bedürfen, sind die Verpflichtungen aus den Refoulement-
Verboten der GFK, der EMRK und der UN-Menschenrechtsabkommen
von besonderer Bedeutung.
Die Refoulement-Verbote sind auch auf Hoher See und
in den Hoheitsgewässern von Drittstaaten anwendbar.
Die extraterritoriale
Anwendung von Menschenrechtsabkommen
ergibt sich aus der Hoheitsgewalt bei Abfang-,
Kontroll- und Rettungsmaßnahmen. Diese Hoheitsgewalt kann durch die Rechtshoheit des Flaggenstaates auf dem staatlichen Schiff, durch die Zurechnung der
Handlungen von Hoheitsträgern, durch die effektive
Kontrolle über Personen und/oder das Verbot der Umgehung
menschenrechtlicher Pflichten begründet sein.
Die Refoulement-Verbote müssen nach Maßgabe der
allgemeinen, sich aus den Menschenrechtsabkommen
ergebenden Maßstäben durch Verfahrens- und Rechtsschutzgarantien
abgesichert werden. Dies erfordert
zum Beispiel eine eingehende Prüfung, ob in anderen
Staaten die Gefahr der Menschenrechtsverletzung
droht. Eine wesentliche Anforderung ist zudem die aufschiebende
Wirkung eines Rechtsmittels gegen die
Ablehnung von Anträgen auf internationalen Schutz.
Diese Anforderungen können auf einem Schiff nicht
erfüllt werden. In Ermangelung adäquater sicherer
Drittstaaten bedeutet dies, dass Schutzsuchende Zugang
zu einem Verfahren in einem EU-Staat haben
müssen, in dem ihr Schutzersuchen geprüft wird.
Die Verantwortlichkeit der Staaten wird durch die
Handlung begründet, die die Gefahr der Menschenrechtsverletzung
verursacht. Daher führt nicht jede
Unterlassung jenseits der Staatsgrenzen zur Verantwortlichkeit.
Die GFK und die internationalen Menschenrechtsabkommen
enthalten keine allgemeine
Pflicht, jeder Person, die auf See angetroffen wird,
Zugang zum Staatsgebiet zur Prüfung des Antrags auf
internationalen Schutz zu gewähren. Sie verbieten
aber, Menschen durch Handlungen jenseits der Staatsgrenzen
schweren Menschenrechtsverletzungen auszusetzen.
Aus- oder Zurückweisung in ein Land, in dem
Gefahren für Leben oder die Freiheit, Folter oder oder
unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder
Strafe drohen, sind daher verboten. In dieser Hinsicht
sind die Staaten auch an die oben beschriebenen Standards
des Verfahrens- und Rechtsschutzes gebunden,
die auch an der Grenze gelten.
Wenn staatliche Schiffe Maßnahmen der Seenotrettung
entsprechend ihren Verpflichtungen aus dem internationalen
Seerecht durchführen, sind sie nach dem internationalen
Seerecht verpflichtet, die Geretteten
an einen sicheren Ort zu bringen. Das Verbringen der
Geretteten
an einen sicheren Ort muss auch an den
Refoulement-
Verboten gemessen werden. Das bedeutet,
dass auch gerettete Personen nicht in Drittstaaten
gebracht
werden dürfen, ohne dass ihr Antrag auf internationalen
Schutz in einem EU-Staat geprüft wurde.
Auch gegenüber gemischten Gruppen von Migrierenden,
die sich nicht auf einem staatlichen Schiff befinden,
sondern im Rahmen von Grenz- und Migrationskontrollen
oder Aktionen der Seenotrettung angetroffen werden,
bestehen Pflichten. Angesichts der Tatsache, dass
sich auf den Booten anerkanntermaßen in der Regel auch
Personen befinden, die des internationalen Schutzes
bedürfen,
bestehen hier stets Anhaltspunkte dafür,
dass ein Zurückeskortieren oder Zurückschleppen in
Staaten außerhalb der EU gravierende Menschenrechtsverletzungen
nach sich ziehen könnte. Deshalb ist es
menschenrechtlich
unzulässig, wenn staatliche Schiffe
des Grenzschutzes
oder der Seenotrettung Schiffe mit
Migrierenden zur Fahrt in Drittstaaten zwingen.
Befinden sich staatliche Schiffe eines EU-Staates in der
Nähe der Ausgangshäfen an den Küsten des südlichen
Mittelmeers oder Westafrikas, so kann die Mitwirkung
an Ausreisekontrollen zudem einen Verstoß gegen das
Menschenrecht auf Ausreise und das Recht, Asyl zu
suchen, darstellen. Zudem kann im Hinblick auf den
dadurch vereitelten Zugang zum Flüchtlingsschutz ein
Verstoß gegen die Verpflichtung zur Auslegung der GFK
nach Treu und Glauben vorliegen.
3. Fehlende Grundrechtskonformität des EU-Sekundärrechts
Das EU-Sekundärrecht regelt die genannten menschenrechtlichen
Anforderungen nur lückenhaft und gestattet
an einigen Stellen ausdrücklich oder implizit grundrechtswidriges
Verhalten der EU Mitgliedstaaten.
Aus der Asylverfahrensrichtlinie ergibt sich für die Mitgliedstaaten
die Verpflichtung, Anträge auf internationalen
Schutz zu prüfen, die in den Hoheitsgewässern,
an der Grenze und bei Kontrollen in der Anschlusszone
gestellt werden. Die Asylverfahrensrichtlinie garantiert
grundsätzlich den Aufenthalt im Land bis zur Entscheidung
über den Schutzantrag und wesentliche Verfahrensrechte.
Art. 35 (Grenzverfahren) und 39 (Recht auf einen wirksamen
Rechtsbehelf) der Asylverfahrensrichtlinie sind
mit den EU-Grundrechten nicht vereinbar. Art. 35 gestattet
den Mitgliedstaaten, Grenzverfahren mit menschenrechtlich
gesehen völlig unzureichenden Verfahrensgarantien
beizubehalten. Art. 39 der Asylverfahrensrichtlinie
enthält den Grundsatz, dass der Antragsteller
gegen die Ablehnung seines Antrags auf internationalen
Schutz einen wirksamen Rechtsbehelf vor einem
Gericht oder Tribunal haben muss. Die Ausgestaltung
des Rechtsmittels einschließlich seiner aufschiebenden
Wirkung und damit das Recht, bis zur Entscheidung
über das Rechtsmittel im Hoheitsgebiet zu verweilen,
überlässt die Richtlinie jedoch der nationalen Regelung
durch die Mitgliedstaaten.
Es wäre völkerrechtlich und
vor dem Hintergrund der EU-Grundrechte auch europarechtlich
unzulässig, wenn die Mitgliedstaaten die
Verfahrensgarantien in Grenzverfahren tatsächlich auf
das in der Richtlinie vorgesehene Mindestmaß beschränken
und keine aufschiebende Wirkung eines
Rechtsmittels vorsehen würden.
Das EU-Sekundärrecht enthält keine Regelung, wie mit
Anträgen auf internationalen Schutz umzugehen ist, die
bei Abfang-, Kontroll- und Rettungsmaßnahmen jenseits
der Staatsgrenzen gestellt werden. Die Asylverfahrensrichtlinie
findet jenseits der Staatsgrenzen mit
Ausnahme der Anschlusszone keine Anwendung. Der
Schengener Grenzkodex findet dort zwar Anwendung,
enthält aber lediglich einen Verweis auf die Rechte der
Flüchtlinge und Personen, die um internationalen Schutz
ansuchen, insbesondere hinsichtlich der Nichtzurückweisung.
Die sich daraus ergebenden Verpflichtungen
der Mitgliedstaaten werden nicht genannt. Zugleich
sieht der Grenzkodex zwar vor, dass ein Rechtsmittel
gegen Einreiseverweigerungen gewährt werden muss,
bestimmt aber, dass ein solches Rechtsmittel keine
aufschiebende Wirkung hat. Diese Bestimmung steht
im Widerspruch zu den Grund- und Menschenrechten,
soweit sie auf Schutzsuchende jenseits der Staatsgrenzen
Anwendung findet, die bei vorverlagerten Grenzkontrollen
angetroffen werden.
4. Regelungspflichten des EU-Gesetzgebers
Menschenrechte und EU-Grundrechte verpflichten
dazu, schutzsuchenden Menschen, die an und jenseits
der Staatsgrenzen auf See aufgegriffen werden, Zugang
zu einem Verfahren in einem EU-Staat gewähren, in
dem ihre Schutzbedürftigkeit geprüft wird. Die Rechte
der Schutzsuchenden müssen durch Verfahrensrechte
und effektiven Rechtsschutz abgesichert werden.
Zugleich
verbieten es die Menschenrechte und die EUGrundrechte,
Boote mit gemischten Gruppen von Migrierenden
in Staaten außerhalb der EU zurück zu
schleppen oder zu eskortieren, weil dies schwere Menschenrechtsverletzungen
nach sich ziehen könnte.
Wenngleich der Grenzschutz und das Flüchtlingsrecht
europarechtlich geregelt sind und die EU-Grenzschutzstrategie
vorverlagerte Migrationskontrollen vorsieht,
sind die genannten menschenrechtlichen Verpflichtungen
im EU-Sekundärrecht nicht geregelt. Vielmehr
gestattet das EU-Sekundärrecht teilweise explizit oder
implizit Handlungen, die gegen Menschenrechte und
EU-Grundrechte verstoßen. Eine Pflicht zum Erlass
menschenrechtsschützender
Sekundärrechtsnormen
aus den EU-Grundrechten trifft den EU-Gesetzgeber.
Denn adäquater Grundrechtsschutz kann aufgrund der
engen Verschränkung von Unionshandeln mit mitgliedstaatlichem
Handeln beim Grenzschutz und aufgrund
der funktionalen Aufgabenzuweisung
an die überlasteten Randstaaten der EU effizient nur durch eine europarechtliche
Regelung gewährleistet werden.
5. Verantwortlichkeit beim Handeln mit Drittstaaten: keine Entbindung von
menschenrechtlicher Verantwortlichkeit
Führen die Mitgliedstaaten gemeinsame Grenz- und
Migrationskontrollen mit Drittstaaten durch, stellt sich
die Frage, wer für etwaige Menschenrechtsverletzungen
verantwortlich ist. Die Handlungen von Organen
eines Staates sind nur dann einem anderen Staat zurechenbar,
wenn diese Organe dem anderen Staat in
einer Weise zur Verfügung gestellt
werden, dass der andere Staat ausschließliches Kommando und Kontrolle
ausübt und das Handeln dieser Staatsorgane als hoheitliches
Handeln des anderen Staates erscheint. Eine solche
effektive Kontrolle anderer Staaten ist bei gemeinsamen
Patrouillen mit Drittstaaten in den Küstengewässern
und der Anschlusszone dieser Drittstaaten jedoch nicht
gegeben. Die vertragliche Übertragung einzelner Kontrollrechte,
die nur den Küstenstaaten zustehen, reicht
hierfür nicht aus. Daher bleiben die EU-Staaten in diesen
Fällen voll verantwortlich für Menschenrechtsverletzungen.
Darüber hinaus ist von Bedeutung, dass auch dann,
wenn die Handlung eines Staates selbst keine Menschenrechtsverletzung
darstellt, eine menschenrechtliche
Verantwortlichkeit nach dem Völkerrecht gegeben
ist, wenn die Handlung einen Akt der Beihilfe zur
Menschenrechtsverletzung eines anderen Staates darstellt.
Eine solche die Verantwortlichkeit auslösende
Beihilfehandlung liegt dann vor, wenn die Beihilfe in
Kenntnis der Umstände der Völkerrechtsverletzung
geleistet wird und die Beihilfehandlung die Haupthandlung
des primär handelnden Staates unterstützt.
Als Beispiele für solche Beihilfehandlungen gelten zum
Beispiel die Zurverfügungstellung von Infrastruktur
und Finanzen, aber auch politische Handlungen wie
Erklärungen, Zusicherungen und Vertragsabschlüsse,
die eine völkerrechtswidrige Tat fördern. In diesem
Zusammenhang müssen einerseits die gemeinsamen
Patrouillen in den Küstengewässern von Drittstaaten
und die Unterstützung und Beratung von Drittstaaten
kritisch betrachtet werden, die insbesondere eine Beihilfe
zu Verstößen gegen das Recht auf Ausreise darstellen
können. Darüber hinaus muss unter diesem
Aspekt die externe Dimension der Migrationsstrategie
kritisch betrachtet werden. Denn durch die Ausübung
politischen Drucks auf Drittstaaten hinsichtlich der
Migrationskontrolle oder durch Leistung finanzieller
und technischer Hilfe beim Grenzschutz kann die menschenrechtswidrige
Behandlung von Migrierenden unter Umständen in vorhersehbarer Weise gefördert
werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Hilfe an
Staaten vergeben wird, die anerkanntermaßen
ein besonders niedriges Niveau des Menschenrechtsschutzes
und ein mangelhaftes Asylsystem aufweisen.
Das EU-Primärrecht definiert die Entwicklung und
Stärkung der Rechtsstaatlichkeit und die Achtung der
Menschenrechte als Ziel der EU-Außenpolitik. Bei der
externen Migrationsstrategie insgesamt sollten daher
nicht die Entlastungsinteressen der EU im Vordergrund
stehen. Vielmehr sollte die Bekämpfung der Fluchtursachen
einschließlich der Förderung der Systeme des
Menschenrechts- und Flüchtlingslingsschutzes in Herkunfts-
und Transitstaaten im Vordergrund stehen. Durch
die Schaffung eines internationalen Lastenteilungssystems
sollte gesichert werden, dass die EU und ihre
Mitgliedstaaten Lasten des internationalen Schutzes in
einem Maße übernehmen, das ihrer starken wirtschaftlichen
Stellung entspricht.
IV. Empfehlungen an die Deutsche Bundesregierung für die Verhandlungen
auf EU-Ebene
-
Das Deutsche Institut für Menschenrechte empfiehlt
der Bundesregierung, die Geltung der Refoulement-
Verbote aus der Genfer Flüchtlingskonvention,
der EMRK und den UN-Menschenrechtsabkommen bei
Abfang-, Kontroll- und Rettungsaktionen
jenseits der Staatsgrenzen ausdrücklich
anzuerkennen.
- Das Deutsche Institut für Menschenrechte empfiehlt
der Bundesregierung, sich dafür einzusetzen,
dass die menschenrechtlichen Verpflichtungen der EU und
ihrer Mitgliedstaaten beim Schutz der gemeinsamen
EU-Außengrenze durch verbindliches Europarecht
geregelt werden. Wie oben beschrieben gehört
dazu insbesondere, dass Schutzsuchende, die im Rahmen
von Abfang-, Kontroll- und Rettungsmaßnahmen
aufgegriffen werden, zur Prüfung ihres Antrags
auf internationalen Schutz in einen EU-Staat verbracht
werden.
- Das Deutsche Institut für Menschenrechte empfiehlt
der Bundesregierung, der rechtlichen Mitverantwortung
Deutschlands für die Wahrung der Menschenrechte
an der gemeinsamen EU-Außengrenze auch
dadurch gerecht zu werden, dass sie sich für eine
Lastenteilung innerhalb der EU und eine deutliche
finanzielle Entlastung der überlasteten Randstaaten
einsetzt.
- Angesichts des völkerrechtlichen Verbots, menschenrechtswidrige
Handlungen anderer Staaten zu fördern,
empfiehlt das Deutsche Institut für Menschenrechte
der Bundesregierung, auf eine EU-Außenpolitik
hinzuwirken, bei der der Menschenrechtsschutz
und nicht das Entlastungsinteresse der EU-Staaten im
Vordergrund steht.
Fußnoten-
Siehe dazu z. B. Rat der EU, Dok. 15445/03, Ziff. 31.
- Siehe dazu Europäische Kommission, KOM (2006) 733, Ziff. 33 ff.
- Ruth Weinzierl: The Demands of Human and EU Fundamental Rights for the Protection of the European Union´s External
Borders. Das Gutachten steht als kostenloses Download auf der Homepage des Deutschen Instituts für Menschenrechte zur
Verfügung: http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/sl.php?id=212
- Ruth Weinzierl/Ula Lisson: Grenzschutz und Menschenrechte. Im Erscheinen.
- Die Küstenstaaten üben Souveränität über die Küstengewässer aus. Die Küstengewässer Spaniens, Frankreichs, Italiens,
Maltas, Zyperns und größtenteils auch Deutschlands sind 12 Seemeilen breit, die Griechenlands sind 6 Seemeilen breit.
- Die Seegrenze eines Staates verläuft zwischen seinen Küstengewässern und der sich daran anschließenden Hohen See.
- Richtlinie 2005/85/EG (Asylverfahrensrichtlinie).
- Siehe Art. 19 Absatz 1 der EU-Grundrechtscharta, der die bereits geltenden EU-Grundrechte bekräftigt.
- Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe.
- Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte.
- Asyl oder andere, subsidiäre Formen des internationalen Schutzes.
* Dr. Ruth Weinzierl ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am DIMR.
Das Dokument im Original: www.institut-fuer-menschenrechte.de
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