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"Die deutsche Regierung muss Zurückhaltung aufgeben und zur Aufklärung beitragen"

Erklärungen, Berichte und Kommentare zum Abschlussbericht des Europarats über die Verschleppungsflüge und Geheimgefängnisse des CIA

"Europa hat bei den Entführungen der CIA beide Augen zugedrückt", titelte "El Pais" in ihrer Ausgabe vom 8. Juni 2006. Das Blatt nahm Bezug auf den einen Tag zuvor vorgelegten Untersuchungsbericht des Schweizer Abgeordneten Dick Marty zu den Verschleppungsflügen und Geheimgefängnissen des CIA in Mitgliedstaaten des Europarats. Ähnlich auch der Tenor in vielen anderen Presseerzeugnissen. Im Folgenden dokumentieren wir ein paar Berichte und Kommentare aus der Tagespresse. Wir beginnen aber mit einer Presseerklärung von amnesty international.
Siehe auch:




amnesty international Deutschland

PRESSEMITTEILUNGEN

ai: Bundesregierung muss bisherige Verschleppungsfälle aufklären, zukünftige verhindern!

Berlin, 7. Juni 2006 - amnesty international (ai) begrüßt den Abschlussbericht des Schweizer Abgeordneten Dick Marty zu Verschleppungsflügen und Geheimgefängnissen der CIA in Mitgliedstaaten des Europarats. Marty hatte die Vorgänge im Auftrag des Rechtsausschusses der Parlamentarischen Versammlung des Europarats untersucht. "Der Bericht macht deutlich, dass die USA ein ausgeklügeltes System aufgebaut haben, um Terrorverdächtige zu entführen und zu verschleppen, um sie in CIA-Geheimgefängnisse oder in für Folter berüchtigte Länder zu bringen", sagte Ferdinand Muggenthaler, Amerika-Experte von amnesty international.

Martys Bericht stellt fest, dass europäische Staaten den USA geholfen haben, Terrorverdächtige zu verschleppen und ohne jegliche Rechte gefangen zu halten. Andere haben diese Menschenrechtsverletzungen geduldet oder sich blind gestellt. "Die Ermittlungen von Dick Marty bestätigen damit ai-Recherchen", sagte Muggenthaler.

Der Marty-Bericht und ai-Ergebnisse decken sich auch darin, dass die europäischen Regierungen längst nicht alles getan haben, um die Menschenrechtsverletzungen auf europäischem Boden und im europäischen Luftraum aufzuklären. "Die deutsche Regierung muss nun ihre bisherige Zurückhaltung aufgeben und vorbehaltlos zur Aufklärung beitragen", sagte Muggenthaler. "Dazu bietet der laufende Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages Gelegenheit. Beispielsweise gilt es aufzuklären, warum sich Deutschland nicht für die Freilassung von Khaled El Masri einsetzte, obwohl deutsche Geheimdienste frühzeitig über seine Festnahme informiert waren, wie der Bericht feststellt."

Der Abschlussbericht fordert weiterhin präventive Maßnahmen und notwendige Änderungen der nationalen Gesetze, um gegen Aktivitäten ausländischer Geheimdienste vorgehen zu können. "Hier erwarten wir von der Bundesregierung die notwendigen Maßnahmen und deutliche Worte an die US-Regierung. Diese muss die Vorfälle aufklären und die Menschenrechte im Kampf gegen den Terrorismus wahren", sagte Muggenthaler. "Die Opfer der Verschleppungen müssen angemessen entschädigt werden."

ai fordert Bundeskanzlerin Merkel und die anderen EU-Regierungschefs auf, sich auf dem bevorstehenden EU-Gipfel am 15. Juni in Brüssel einstimmig gegen die Praxis der CIA auszusprechen und sich zu verpflichten, Verschleppungen und Geheimgefängnisse in Europa in Zukunft zu verhindern.

Quelle: Newsletter von ai, 8. Juni 2006


Folterurlaub bei Sam

Das Europaratsdossier über CIA-Entführungen zeigt, wie wenig die Bundesregierung ihre Bürger im Ausland schützt – und wie schlecht sie lügt

Von Jürgen Elsässer*

Sommerzeit – Ferienzeit. Die Deutschen sind Weltmeister in Sachen Tourismus und bekannt dafür, gerne auf eigene Faust auch entlegene Reiseziele auszukundschaften. Doch das kann seit dem 11. September 2001 böse Folgen haben. Der am Mittwoch vorgelegte Bericht von Dick Marty, Sonderberichterstatter des Europarats, über die Verschleppung von Terrorverdächtigen durch die CIA, sollte neben einschlägigen Impfratgebern in jedem guten Reisebüro ausliegen.

Brandgefährlich ist es beispielsweise, mit einem relativ neuen Paß zu reisen und, obwohl deutscher Staatsbürger, einen irgendwie fremdländischen Namen zu haben – nach den neuesten statistischen Daten trifft das bekanntlich auf knapp zehn Millionen Bürger zu. Dann kann es passieren, daß man bei der Einreise in irgendeine »Bananenrepublik« wegen vermuteter Paßfälschung festgehalten und an die CIA weitergemeldet wird. Schwuppdiwupp endet man in einem Luxushotel, allerdings nicht im gebuchten, und wird dort drei Wochen verhört, anschließend »geschlagen, nackt ausgezogen, auf den Boden geworfen«, schließlich wird »ein hartes Objekt in den Anus gezwängt«, bevor man in ein Flugzeug gesteckt wird. Das bringt einen in ein afghanisches Drecksloch, wo die Torturen noch vier Monate weitergehen.

Die Zitate und die Abläufe sind dem Teil des Marty-Bericht entnommen, der die Entführung des Neu-Ulmers Khaled Al Masri behandelt. Der Deutsch-Libanese brach Ende Dezember 2003 zu einem Kurzurlaub nach Mazedonien auf, wurde dort verhaftet und der CIA übergeben. Sein Martyrium endete erst am 28. Mai 2004. »Die Geschichte Al Masris ist die dramatische Geschichte einer Person, die offensichtlich unschuldig ist oder gegen die zumindest nie die leiseste Anschuldigung vorgebracht werden konnte – und die einen Alptraum im Spinnennetz der CIA durchleben mußte«, resümiert Marty.

Das alles ist höchstwahrscheinlich mit Wissen der deutschen Behörden passiert, die eigentlich für den Schutz ihrer Bürger im Ausland zu sorgen hätten. Im Marty-Bericht heißt es: »Mehrere unserer Interviewpartner … sagten uns, daß deutsche Nachrichtendienste über die Tatsache, daß sich Herr Al Masri in den Tagen unmittelbar nach seiner Verhaftung in mazedonischem Gewahrsam befand, informiert waren …« Noch letzte Woche wollten Bundesregierung und BND der Öffentlichkeit weismachen, lediglich ein untergeordneter BND-»Techniker« habe im Januar 2004 von einem Unbekannten in einer Frühstückskantine in Skopje von der Entführung Al Masris gehört. Daß der deutsche Beamte das anschließend zweieinhalb Jahre für sich behalten haben soll, roch von Anfang an streng – nun ist der ganze Schwindel aufgeflogen.

Marty hält auch den Verdacht aufrecht, daß es sich bei dem Uniformierten mit dem Decknamen »Sam«, der Al Masri in Afghanistan verhörte, um den deutschen BKA-Beamten Gerhard Lehmann handelte. Der Neu-Ulmer habe ihn identifiziert, und zwar sowohl auf Fotos – »mit 100prozentiger Gewißheit« – wie bei einer polizeilichen Gegenüberstellung am 22. Februar 2006 – »mit 90prozentiger Gewißheit«. Lehmanns Alibi – angeblich sei er im Tatzeitraum im BKA-Büro Berlin gewesen – taucht im Bericht nur noch in einer Fußnote auf.

Marty hat weiter ermittelt, daß sowohl der Flughafen in Frankfurt am Main wie die US-Basis in Ramstein eine wichtige Rolle bei den Entführungen durch die CIA spielen. US-Folterzentren befänden sich mit ziemlicher Sicherheit in Rumänien (Nähe Timisoara) und Polen (Szymany).

* Aus: junge Welt, 8. Juni 2006


"Kein Rechtsstaat light"

SPD reagiert empfindlich auf Kritik des Europarats

Die SPD im Deutschen Bundestag hat äußerst empfindlich auf den Abschlussbericht des Europarats-Sonderbeauftragten Dick Marty über illegale Gefangenenflüge des US-Geheimdienstes CIA und die Rolle Deutschlands reagiert. "Mit Gerüchten können wir nicht viel anfangen", sagte der innenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Dieter Wiefelspütz, der "Rheinischen Post". Konkrete Anfangsverdachtsmomente mit Blick auf die Vorgänge in Deutschland würden von Marty nicht genannt. "Man sollte schon Ross und Reiter nennen", so Wiefelspütz. - Nach Darstellung der FDP belastet der Bericht insbesondere Außenminister Frank-Walter Steinmeier.

Es sei "völlig klar, dass in Deutschland am Boden, auf der See und in der Luft Grundgesetz und Völkerrecht" zu gelten hätten, so Wiefelspütz. Es gebe auch "keinen Rechtsstaat light für die Amerikaner". Doch bisher habe er vom Sonderbeauftragten "nichts als Spekulationen gehört".

Quelle: ngo-online, 8. Juni 2006


Nichts Halbes, nichts Ganzes

Auszug aus dem Kommentar von Arnd Festerling in der FR

Man könnte Deutschland aktive oder passive Zusammenarbeit mit der CIA bei deren illegalen Machenschaften vorwerfen. Sagt der Sonderermittler des Europarats. Man könnte, sagt er, nicht: man kann. Beweise im klassischen Sinn gebe es nicht, sagt er (...)
Von dem Untersuchungsbericht eines Sonderermittlers erhofft sich die Öffentlichkeit allerdings mit einigem Recht etwas mehr, als eine ausführliche Presseschau zum Thema (...)
Schade, es wäre schön gewesen, wenn der Bericht des Europarats mit neuen Erkenntnissen oder Fakten hätte dienen können. Tut er aber nicht. So beschuldigt der Ermittler Rumänien und Polen des Unterhalts geheimer Gefängnisse unter Hinweis auf Artikel in US-Zeitungen. Schön, dass er sie für glaubwürdig hält - vermutlich sind sie es ja auch - aber die Empfehlung, diesen Hinweisen weiter nachzugehen, reicht nicht. (...) Ein äußerst unbefriedigendes Ergebnis.

Aus: Frankfurter Rundschau, 8. Juni 2006


Rumänien und Polen weisen Vorwürfe zurück

Rumänien hat den Bericht des Europarats-Abgeordneten Dick Marty zu CIA-Flügen mit Terrorverdächtigen nach Rumänien am Mittwoch zurückgewiesen. Der Bericht stütze sich "auf Vermutungen, nicht auf Beweise", sagte der Vorsitzende des parlamentarischen Kontrollausschusses des rumänischen Auslandsgeheimdienstes SIE, Romeo Raicu, am Mittwoch (7. Juni) in Bukarest, wie die Nachrichtenagentur Mediafax berichtete. In Rumänien seien keinerlei Beweise für die Existenz von illegalen CIA-Gefängnissen gefunden worden, hieß es.
(...)
Die Behörden des EU-Beitrittskandidaten Rumänien haben wiederholt die Existenz von illegalen CIA-Haftzentren oder das Wissen um den Transport von mutmaßlichen Terroristen auf rumänischem Territorium entschieden zurückgewiesen.

Auch in Polen distanzierte man sich von den Vorwürfen in dem Bericht. Der polnische Ministerpräsident Kazimierz Marcinkiewicz erklärte am Mittwoch vor Journalisten in Warschau: "Das sind Verallgemeinerungen, die auf keinerlei Tatsachen basieren". Marty hatte in seinem Bericht festgehalten, es sei wahrscheinlich, dass ein Flughafen in Polen als Übergabepunkt für CIA-Gefangene genutzt worden sei. Außerdem soll es auf polnischem Boden geheime Gefangenenlager gegeben haben.
(...)
Aus: Der Standard (Wien), 8. Juni 2006


Spinnennetz der CIA

Von Olaf Standke

Wenn es um die geheimen Gefangenenflüge und -lager der CIA in Europa geht, verhalten sich die betroffenen Regierungen seit Monaten wie die berühmten drei Affen: nichts gesehen, nichts gehört, und auskunftsfreudig sind sie auch nicht. Der gestern in Paris vorgelegte Bericht des Sonderbeauftragten des Europarats, Dick Marty, setzt 14 Staaten nun noch stärker unter Druck. Deutschland gehört dazu. Wie Spanien oder die Türkei soll die Bundesrepublik »Stützpunkte« für rechtswidrige Überstellungen gewährt haben.

Von einem CIA-Netzwerk, das wie ein Spinnennetz über den ganzen Globus gelegt wurde, ist in dem Report die Rede. Viele Indizien sprechen dafür, dass der USA-Auslandsgeheimdienst ein ausgeklügeltes System aufgebaut hat, um vermeintliche Terrorverdächtige zu verschleppen und in einem gleichsam rechtsfreien Raum gefangen zu halten. Ohne Duldung oder gar handfeste Hilfe der zuständigen Behörden in den jeweiligen Ländern war das nicht möglich. Deshalb die Zurückhaltung bei der Aufklärung gravierender Menschenrechtsverletzungen auf dem Boden und im Luftraum Europas. Auch die Bundesregierung mauert, nicht nur im Fall ihres 2003 von Mazedonien nach Afghanistan entführten Bürgers El Masri, bei dem es sogar Hinweise auf eine deutsche Verstrickung gibt. Stoff genug also für den BND-Untersuchungsausschuss des Bundestages – und einen Auftritt von Marty in Berlin.

Aus: Neues Deutschland, 8. Juni 2006


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