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EU-Asylpolitik verletzt Menschenwürde

Wirtschaftskrise zwingt mehr Flüchtlinge nach Europa

Von Nissrine Messaoudi *

Armut, Gewalt, Repression - der Jahresreport 2009 von Amnesty International über die Lage der Menschenrechte warnte vor der Diskriminierung von Minderheiten und kritisiert die europäische Flüchtlingspolitik.

Ein Dreivierteljahr nach dem Ende der Olympischen Spiele in China gibt es dort immer noch keine Verbesserungen der Menschenrechte. Viele Kritiker, die vor den Spielen verhaftet wurden, sitzen nach wie vor hinter Gittern. Das ist nur ein Beispiel für die unbefriedigende Menschenrechtssituation in unserer Welt, das Amnesty International (AI) gestern in Berlin bei der Vorstellung des Jahresberichts 2009 anführte. In 81 der insgesamt 157 beobachteten Länder sei die Meinungsfreiheit verletzt worden. In 50 Ländern habe man Menschen wegen ihrer Überzeugung inhaftiert.

Ein besonderes Augenmerk richtete der 46. Jahresreport der Menschenrechtsorganisation auf die Folgen der Weltwirtschaftskrise, die vor allem die verarmten Regionen der Welt wie Afrika zusätzlich treffe. »Die globale Finanzkrise ist auch eine Menschenrechtskrise, und die Lage wird sich vermutlich weiter verschärfen«, sagte Nicolas Beger, Direktor des EU-Büros von Amnesty in Brüssel. Armut bedeute nicht nur Mangel an lebensnotwendigen Mitteln, sondern auch keine Chance auf Bildung und keine Möglichkeit, sich rechtlich gegen Gewalt oder Repressalien zu wehren, hieß es weiter. »Vier Milliarden Menschen haben keinen Zugang zur Justiz. Das sind rund zwei Drittel der Menschheit«, erklärte Beger.

Als Beispiel dafür nannte er Eritrea, das nach der Befreiung von äthiopischer Herrschaft als Hoffnungsträger für ein alternatives afrikanisches Entwicklungsmodell galt. Stattdessen habe es sich in ein großes Gefängnis verwandelt. Jede zivilgesellschaftliche Betätigung und politische Opposition seien verboten. Wehrdienstverweigerung, Flucht ins Ausland oder schon ein Asylantrag können Haft und Folter zur Folge haben. Obwohl die UNO einen Abschiebestopp nach Eritrea empfohlen habe, schob Deutschland 2008 zwei Eritreer in ihre Heimat ab. »Beide sind inhaftiert und wurden gefoltert. Ob sie noch leben, wissen wir nicht.«

Das Schicksal der Eritreer ist leider keine Ausnahme. »Es ist kaum noch möglich, in Europa Zugang zu einem fairen Asylverfahren zu erhalten«, monierte Beger. Die Asyl- und Flüchtlingspolitik der EU verletze die Menschenwürde und sei außerdem völkerrechtswidrig. Alle Bemühungen der EU konzentrierten sich auf die Fernhaltung der Flüchtlinge an den Außengrenzen. Dass diese Bemühungen keine Lösung des eigentlichen Problems sind, zeigen die Zahlen. Allein 2008 versuchten rund 70 000 Menschen, auf dem Seeweg nach Europa zu gelangen. Die genaue Zahl der Toten sei nicht bekannt. Infolge der Wirtschaftskrise erwarte Amnesty auch hier einen Anstieg der Flüchtlinge. Neben den Abschiebungen zeigte sich die Organisation auch über die Diskriminierung von Minderheiten besorgt. Vor allem in Italien, Tschechien und Ungarn haben Anfeindungen gegenüber Sinti und Roma zugenommen. Viele Roma lebten in Ghettos und müssten Zwangsräumungen fürchten. Roma-Kinder würden in Sonderklassen unterrichtet oder gingen gar nicht zur Schule.

Auch Deutschland mache sich laut AI Menschenrechtsverletzungen schuldig. Im Zuge der Terrorismusbekämpfung habe man das absolute Folterverbot untergraben. Deutsche Kriminal- und Geheimdienstbeamte sollen mehrfach Verdächtige in Ländern befragt haben, die für Folter bekannt seien. »Mutmaßlich Gefolterte zu vernehmen, ist mit der Unantastbarkeit der Menschenwürde nicht vereinbar und verletzt Artikel 1 des Grundgesetzes, das sollte die Bundesregierung nicht vergessen.«

Zahlen und Fakten

  • Amnesty International ist eine weltweite, von Regierungen, politischen Parteien, Ideologien, Wirtschaftsinteressen und Religionen unabhängige Mitgliederorganisation, die sich aus Spenden und Mitgliedsbeiträgen finanziert. Regierungsgelder nimmt Amnesty nicht an. Auf Grundlage der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wendet sie sich gegen schwer wiegende Menschenrechtsverletzungen in aller Welt und wurde für ihr Wirken 1977 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
  • Amnesty hat in über 150 Ländern mehr als zwei Millionen Mitglieder, Unterstützer und Förderer. In Deutschland engagieren sich rund 100 000 UnterstützerInnen in 700 lokalen Gruppen, Jugend-, Länder- und Themenkoordinationsgruppen.
  • Ohne Schutz der Menschenrechte könne es keinen Erfolg im Kampf gegen die weltweite Armut geben, so der AI-Report 2009. Vier Milliarden Menschen haben weltweit keinen effektiven Zugang zur Justiz.
  • 67 000 Menschen versuchten 2008 auf dem Seeweg, nach Europa zu gelangen. Hunderte von ihnen kamen dabei ums Leben. AI fordert von der EU Garantien, dass Verfolgte auf ihrem Territorium Asyl beantragen können.
  • 27 Länder schieben Menschen selbst dann ab, wenn ihnen Folter, Verfolgung oder Tod drohen, darunter ist auch Deutschland.
  • 19 EU-Staaten gehen nach AI-Einschätzung nicht menschenrechtskonform mit Asylsuchenden und Flüchtlingen um.
  • Enthaupten, Erhängen, Erschießen, Steinigen, der elektrische Stuhl und die Giftspritze - 2008 sind mindestens 2390 Menschen in 25 Ländern durch eine dieser Hinrichtungsarten getötet worden.
  • 78 Prozent aller Hinrichtungen weltweit werden in den G-20 Ländern durchgeführt.
(ND)



* Aus: Neues Deutschland, 28. Mai 2009


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