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Barbara Lochbiehler: "Menschenrechte müssen Grundlage allen staatlichen Handelns werden"

amnesty international Deutschland legt Jahresbericht 2006 vor - Abschiebungsstopp in Kriegs- und Krisengebiete gefordert - Zahlen und Fakten

PRESSEMITTEILUNGEN

amnesty international Jahresbericht 2006

Ein verbindliches Bekenntnis zu den Menschenrechten - der Weg zu mehr menschlicher Sicherheit

Berlin, 23. Mai 2006 - "Menschliche Sicherheit lässt sich nur erreichen, wenn die Menschenrechte Grundlage allen staatlichen Handelns werden. Das Jahr 2005 hat gezeigt, dass immer mehr internationale und nationale Gremien sowie Regierungen, diese Auffassung teilen - auch wenn es um den Menschenrechtsschutz bei 'Antiterror-Maßnahmen' geht", sagte Barbara Lochbihler, Generalsekretärin der deutschen Sektion von amnesty international (ai), bei der Vorstellung des ai-Jahresberichts 2006 in Berlin.

Jedoch ist ein Ende der Menschenrechtsverletzungen im "Krieg gegen den Terror" nicht in Sicht. Guantánamo existiert weiter, immer noch halten die USA Menschen an geheimen Orten fest. Länder wie Ägypten oder Jordanien nehmen terrorverdächtige Personen ohne Anklageerhebung oder faires Gerichtsverfahren in Haft - mit stillschweigender Duldung oder ausdrücklicher Rückendeckung der USA. Ende 2005 wurde bekannt, dass die CIA illegale Gefangenentransfers in Geheimgefängnisse oder Folterstaaten offenbar in erheblichem Maße über europäische Flughäfen abgewickelt hat.

Zeichen der Hoffnung

ai begrüßt, dass der Europarat, das EU-Parlament und der Bundestag die Rolle der europäischen Länder bei den Verschleppungsflügen durch die CIA untersuchen. "Die Bundesregierung und die anderen EU-Regierungen müssen zur Aufklärung beitragen und sie sollten unmissverständlich und öffentlich erklären, dass sie keine Verschleppungen oder illegale Flüge über ihrem Hoheitsgebiet mehr zuzulassen werden", sagte Lochbihler.

Die internationale Gemeinschaft hat trotz erheblichen Widerstands den UN-Menschenrechtsrat eingerichtet. "Jetzt müssen die Mitglieder des Rates ihren Arbeitsrahmen formulieren. Wichtig ist dabei, dass sie die Unabhängigkeit der Sonderberichterstatter erhalten und das bisherige Mitspracherecht der Nichtregierungsorganisationen nicht beschneiden", sagte Lochbihler.

Ermutigende Fortschritte sieht ai bei der strafrechtlichen Ahndung von Völkerrechtsverbrechen. Der Internationale Strafgerichtshof wird mittlerweile von 100 Staaten getragen. Unabhängig vom Internationalen Strafgerichtshof ist es erfreulich, dass Nigeria den liberianische Ex-Diktator Charles Taylor im März 2006 nach langer Weigerung an den Sondergerichtshof in Sierra Leone ausgeliefert hat.

Regionaler Brennpunkt Kolumbien

Aus Anlass der bevorstehenden Präsidentenwahl in Kolumbien am 28. Mai appellierte ai an alle Kandidaten die Menschenrechte ins Zentrum ihrer Politik zu rücken. "Alle Konfliktparteien ziehen die Zivilbevölkerung in die militärische Auseinandersetzung hinein", sagte Lochbihler. "Für viele Morde, Entführungen und Vertreibungen sind Paramilitärs verantwortlich, die oft auf die Unterstützung von staatlichen Sicherheitskräften rechnen können." Seit 2003 haben rund 25.000 Paramilitärs ihre Waffen niederlegt, doch genießen die Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen weitgehend Straffreiheit.

Deutschland

Mit Blick auf Deutschland kritisiert ai, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Jahr 2005 etwa 11.000 Menschen den Flüchtlingsstatus aberkannt hat. Einige sind bereits abgeschoben worden, die anderen leben in täglicher Furcht davor. Die meisten Betroffenen stammen aus Kriegs- und Krisengebieten wie Afghanistan, Irak oder dem Kosovo. "Wir haben uns mehrfach an die Innenminister der Länder gewandt und einen Abschiebungsstopp in Kriegs- und Krisengebiete gefordert," so Lochbihler.

Hintergrund

Der neue ai-Jahresbericht dokumentiert für den Berichtszeitraum 01. Januar bis 31. Dezember 2005 Menschenrechtsverletzungen in 150 Ländern. In 104 Staaten hat ai gesicherte Kenntnis, dass Sicherheitskräfte, Polizisten oder andere Staatsangestellte Menschen gefoltert und misshandelt haben. In 53 Ländern wurden Menschen zum Tode verurteilt, in 22 Ländern wurden mindestens 2.148 Todesurteile vollstreckt.

2005 startete ai 326 neue Urgent Actions, auf deutsch Eilaktionen. Außerdem veröffentlichte die Organisation zu 299 vorherigen Eilaktionen weitere Informationen. Etwa 40 Prozent dieser weiteren Informationen enthielten positive Meldungen: Gewaltlose politische Gefangene wurden freigelassen, Folterungen unterbunden, Todesurteile umgewandelt, und weitere Vergehen gegen die Menschenrechte konnten verhindert werden.

***

Die deutsche Übersetzung des ai-Jahresberichts 2006 erscheint im S. Fischer Verlag. Sie hat 525 Seiten, kostet 14,90 Euro und ist ab dem 26. Mai im Handel erhältlich.

ai-Jahresbericht 2006 - Zahlen und Fakten

(Stand: 23. Mai 2006)

Todesstrafe
  • 2005 haben 122 Länder die Todesstrafe per Gesetz abgeschafft oder nicht angewendet
  • 1977, das Jahr, in dem die USA die Todesstrafe wieder einführten und amnesty international eine wegweisende Konferenz zum Thema Todesstrafe einberief, gab es lediglich 16 Länder, die die Todesstrafe abschafften
  • Nach Kenntniss von amnesty international gibt es ein Land, das die Todesstrafe auch an Jugendlichen vollstreckt
Folter

Regierungen haben einerseits die Menschenrechte auf ihre Fahnen geschrieben, sie aber gleichzeitig untergraben.
  • Es gibt 141 Vertragsstaaten des UN-Übereinkommens gegen Folter
  • In 104 der 150 Staaten, die amnesty international im Jahresbericht 2006 aufführt, sind Menschen misshandelt und gefoltert worden
Bewaffnete Konflikte

Der Konflikt in Darfur ist in Art und Umfang als unvorstellbar und zutiefst erschütternd bezeichnet worden. Um die Zivilbevölkerung in Darfur zu schützen, bedarf es eines umgehenden Handelns durch die Vereinten Nationen und die Afrikanische Union.
  • 2,2 Millionen Menschen sind in der Konfliktregion auf der Flucht oder wurden vertrieben
  • Seit 2003 sind in Darfur 285.000 Menschen getötet worden oder starben an Hunger oder Krankheiten
  • 7.000 Beobachter wurden von der Afrikanischen Union in die Region Darfur entsandt
  • 13 Resolutionen des UN-Sicherheitsrates wurden zu Darfur angenommen
  • Bislang sind keine UN-Friedenstruppen nach Darfur entsandt worden
„Überstellungen“

Im Jahre 2005 hat die USA die Praxis von „Renditions“ eingestanden; darunter versteht man die zwangsweise „Überstellung“ von Personen in andere Länder ohne rechtstaatliches Verfahren. Den Gefangenen drohen in diesen Ländern Verhöre unter Folter und Misshandlung. „Renditions“ sind gemäß internationaler Abkommen, zu denen sich alle europäischen Staaten verpflichtet haben, illegal.
  • Im Jahre 2005 konnte die Beteiligung von europäischen Regierungen an „Überstellungen“ durch die USA belegt werden
  • Zwischen 2001 und 2005 hat es ca. 1.000 geheime Flüge im europäischen Luftraum gegeben, bei denen eine direkte Verbindung zur CIA hergeleitet werden kann. Bei einigen dieser Flüge wird angenommen, dass sie zum Transport von Gefangenen genutzt wurden
  • 100 ist die geschätzte Anzahl von Personen, die weltweit Opfer von „Renditions“ wurden
  • Sechs europäische Länder sollen an der „Überstellung“ von 14 Personen in Länder beteiligt gewesen sein, in denen sie gefoltert wurden
  • Ein europäisches Land hat Haftbefehl gegen Mitarbeiter der CIA ausgestellt, denen die „Überstellung“ von Gefangenen zur Last gelegt wird.
Folter und Terror

Tausende Menschen wurden im Namen der Terrorbekämpfung ohne Anklage oder Prozess in Gewahrsam gehalten, misshandelt oder gefoltert.
  • 1592 Tage ist es her, seitdem die USA in Guantánamo Bay ein Gefängnis für „Terror-Verdächtige“ errichtet haben
  • 759 Menschen wurden dort bisher inhaftiert
  • 13 Jahre alt war Mohammed Ismail Agha, als er in Afghanistan Ende 2002 in US-Gewahrsam genommen wurde, bevor man ihn später nach Guantánamo brachte
  • Kein einziger Häftling in Guantánamo Bay ist bislang wegen einer Straftat verurteilt worden
Gewalt gegen Frauen

Von der Geburt bis zum Tod, zu Friedens- sowie zu Kriegszeiten sind Frauen Diskriminierung und Gewalt durch den Staat, die Gesellschaft oder durch die Familie ausgesetzt.
  • 2 Millionen Mädchen sind jährlich von Genitalverstümmelung bedroht. Nur neun Länder haben spezifische Gesetze, welche die Genitalverstümmelung von Frauen und Mädchen verbieten
  • 25% aller Frauen weltweit erfahren in ihrem Leben sexuellen Missbrauch durch ihren Partner
  • 5,3% der 2003 in England und Wales angezeigten Vergewaltigungen führten zur Verurteilung
  • Unbekannt ist die Zahl der Frauen, welche im Zuge eines bewaffneten Konflikts vergewaltigt wurden. Vergewaltigung wird im Krieg häufig als Waffe verwendet. Konkrete Zahlen zu ermitteln, ist aufgrund von Unsicherheit, Angst vor Brandmarkung sowie dem Risiko von Vergeltungsmaßnahmen gegen Frauen, die Vergewaltigung anzeigen, schwierig.
Waffen unter Kontrolle

Die Verbreitung von Handfeuerwaffen schürt weltweit Konflikte und führt zu Armut und Menschenrechtsverletzungen.
  • Zwei Kugeln existieren für jeden Bewohner dieser Erde, eine Handfeuerwaffe wäre für jeden zehnten Menschen verfügbar
  • Durchschnittlich werden 1.000 Menschen pro Tag durch Handfeuerwaffen getötet
  • Für jeden US-Dollar, der für Entwicklungshilfe ausgegeben wird, werden zehn Dollar für Militärausgaben aufgewendet
  • 88% der gemeldeten Exporte konventioneller Waffen stammen von den fünf ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates: China, Frankreich, Russland, Großbritannien und USA



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