Der lange Kampf um vier Häftlinge
Aus der Arbeit einer Berliner ai-Gruppe
Den folgenden Artikel entnahmen wir der Wochenzeitung "Freitag". Er wurde anlässlich des 40. Geburtstags von amnesty international verfasst.
Verlass auf die Gruppe 1038
                               AMNESTY INTERNATIONAL - Eine Berliner Gruppe bemüht
                               sich seit Jahren um die Freilassung von vier Häftlingen im
                               Königreich Bhutan
Von Marina Achenbach
                               Die vier Männer aus Bhutan wurden der Gruppe 1038 von der
                               amnesty-Zentrale zugeteilt. Weltweit befassen sich mit dem Fall dieser
                               Gefangenen zwölf Gruppen von Skandinavien bis Japan. Sie wurden 1997
                               verhaftet, als sie aus dem Nachbarland Nepal von einer Tagung nach
                               Hause zurückkehrten, den eine oppositionelle Organisation - der Druk
                               National Congress (DNC) - im Exil veranstaltet hatte. Ziel ist die
                               demokratische Entwicklung in Bhutan. 
                               Nun schreiben die amnesty-Aktivisten regelmäßig Briefe dorthin, unter
                               ihnen Sina Muster, die als Neunzehnjährige zu amnesty kam. Sie suchte
                               noch als Schülerin einen Ort, wo sie sich "mit Menschen für Menschen"
                               engagieren konnte. Das war ihre Formel, die sie als Austauschschülerin in
                               den USA bei der dortigen freiwilligen Feuerwehr kennen gelernt hatte. In
                               Berlin war die Feuerwehr nichts für eine enthusiastische Abiturientin. Sie
                               suchte sich im Telefonbuch die Nummer von amnesty und bekam die
                               Adresse der ai-Gruppe, in der auch Jan Strohschein war. Er hatte schon
                               1986 im Religionsunterricht seines Steglitzer Gymnasiums von amnesty
                               gehört. Die Schicksale von Lagerhäftlingen in der Sowjetunion waren es
                               damals, die ihn und sieben weitere Schüler so beeindruckten, dass sie
                               aktiv werden wollten. Er ist wie auch andere aus der Schülergruppe bis
                               heute dabei geblieben. Wenn Leute abspringen, dann meist in den ersten
                               Monaten. Wer länger mitmacht, "verhake" sich, steige kaum noch aus, so
                               beobachtete es Strohschein. 
                               Die Schüler waren damals 14 und konnten nach den Regeln von ai noch
                               keine Gruppe bilden. Sie durften beispielsweise kein Geld sammeln. Zu
                               den Pflichten einer Gruppe aber gehört es, einen Beitrag zu
                               "erwirtschaften", rund 4.000 DM im Jahr. Die Erträge einer Gruppe, auch
                               Spenden, die über sie laufen, werden in einem internen System verbucht.
                               Das Verfahren ist relativ kompliziert, aber immer noch effektiv. Das werde
                               von vielen Seiten, gerade auch anderen Menschenrechtsorganisationen,
                               anerkannt, erklärt Strohschein. 
                               Die Schülergruppe verband sich mit ai, bis sie nach sechs Jahren selbst
                               einen regulären Status bekam und die Kennziffer 1038 von der ältesten
                               Gruppe Berlins übernahm, die im Begriff war, sich aufzulösen. Zur Gruppe
                               gehören heute ein Politologe, drei Juristinnen, ein Biologe, ein Abiturient,
                               eine Sängerin. Akademische Berufe dominieren, zumindest bei ai in
                               Deutschland. 
                               Und nun ist das kleine Königreich Bhutan im Himalaya in ihren Horizont
                               geraten. 600.000 Einwohner. Rund 100 politische Häftlinge. Jene Vier von
                               ihnen beschäftigen die Gruppe seit zwei Jahren. Ist ihnen Bhutan nahe
                               gerückt? Im Grunde verfügen sie über nur einige Daten, mit denen sie das
                               Land umreißen: Der König verordnet Isolation. Das Parlament ist ohne
                               Einfluss. Touristen dürfen nur in beschränkter Zahl einreisen. Westlicher
                               Einfluss soll vermieden werden. Bis vor zwei Jahren gab es kein
                               Fernsehen. Das vom Tourismus überschwemmte Nepal gilt dem Herrscher
                               als abschreckendes Beispiel. Der König ist jung und populär. Eigentlich
                               sind solche Anliegen für Sina, die in Potsdam Geoökologie studiert und für
                               Jan, der Landschaftsplanung betreibt, gar nicht so negativ belegt. 
                               Aber da sind die vier Häftlinge. Zwar gibt es über sie nur die dürftigen
                               Informationen vom Anfang, nicht einmal die Namen haften im Gedächtnis,
                               aber sie sind der Riss im Bild von Bhutan. Taw Tshering, Samten Lhendup,
                               Tshampa Wangchuk, Tshampa Ngawang Tenzin, zwischen 40 und 50,
                               verhaftet im Februar 1997, zu fünf Jahren verurteilt. In ihrem Prozess
                               durften sie nur zeitweilig anwesend sein. Eine Woche lang seien sie nackt
                               großer Kälte ausgesetzt gewesen, ist noch in den knappen Angaben
                               erwähnt, doch mit gewisser Vorsicht gegenüber dieser Information. Das ist
                               alles, was die Gruppe 1038 weiß. Nichts kam in den zwei Jahren des
                               Bemühens um die Häftlinge hinzu. Weder von ihnen noch von den
                               Behörden gab es eine Rückmeldung. Erhalten sie die Postkarten, die
                               direkt an das Gefängnis gehen? Wissen sie, dass sich Leute aus dem
                               Ausland für sie einsetzen? Zu den Verwandten wird kein Kontakt
                               aufgenommen, um sie nicht zu gefährden. Bhutan schweigt. Auf der Expo
                               gab es einen Bhutan-Tempel. Dorthin fuhr die Gruppe zu einem Aktionstag.
                               Die Fotografin Anna Bausch stellte ihre Reise-Bilder aus dem Land für eine
                               Ausstellung im Foyer der Freien Universität zur Verfügung. In der
                               Hanns-Eisler-Hochschule fand im Februar ein Benefiz-Konzert statt. Die
                               Gruppe 1038 lässt nicht locker. Bhutan aber und die Lage der vier
                               Inhaftierten nehmen in der Vorstellung kaum Gestalt an. Alles bleibt im
                               Grunde abstrakt. 
                               Ja, man abstrahiert, bestätigen Sina und Jan. Man könne seine Phantasie
                               nicht immer wieder mit den Schicksalen Verfolgter anfüllen. Man schütze
                               sich. Im monatlichen ai-journal liest Sina einen der Berichte, dann legt sie
                               es weg. Sie blocke ab, bekennt sie. Die Diskrepanz "zwischen Wollen und
                               Können" wäre ihr sonst unerträglich. Wahrscheinlich habe jeder bei ai
                               einen Fall, mit dem er sich identifiziert. Für Jan ist es heute das Warten in
                               der Todeszelle, das seine Emotionen weckt. 
                               Die politische Wirklichkeit nehmen sie als Chaos wahr. Die Schuldigen
                               sind einzelne Personen. Das System von Unrecht funktioniere immer dann,
                               wenn benennbare Teile der Gesellschaft mitmachten. Meist seien es gar
                               nicht so viele. Auch die Verletzung von Gesetzen erfolge durch einzelne
                               Menschen. Die Verantwortung der Einzelnen ist es, die sie interessiert. 
                               Könnten nicht bei der andauernden, totalen Funkstille Zweifel aufkommen,
                               dass es die vier Gefangenen in Bhutan überhaupt gibt? Immerhin hatte die
                               Gruppe auch schon Erfahrung mit unklaren Umständen: Vor Bhutan hatte
                               man ihnen den Fall eines Kosovo-Albaners übertragen, der von serbischen
                               Polizisten zusammen geschlagen worden war. Amnesty forderte eine
                               gerichtliche Untersuchung. Der Mann ging ins Ausland und wollte nicht,
                               dass sein Fall weiterhin verfolgt wurde. Doch Zweifel an der präzisen
                               Recherche von amnesty hegen Sina Muster und Jan Strohschein nicht, sie
                               vertrauen im Gegenteil der Genauigkeit völlig. Auch eine mögliche
                               Instrumentalisierung von amnesty durch eine westliche Dominanzpolitik
                               schließen sie aus. Die Zuverlässigkeit der Organisation überzeugt sie. Man
                               sei "Teil einer großen effektiven Organisation, die seriös und unparteiisch
                               ist". Darin leisten sie ihren Teil. Das hält sie. 
                               Vom 28. 7. -5.8.2001 veranstaltet ai die "5. Internationale Radtour für
                               Menschenrechte" von Prag nach Leipzig. Auskünfte gibt sina.muster@web.de.s
                               
Aus: Freitag, Nr. 22, 25. Mai 2001
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