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Vorgaben und große Erzählungen

Ein Buch über europäischen Auslandsjournalismus

Von Anton Holberg *

Um es vorweg zu sagen: Charlotte Wiedemanns »Vom Versuch, nicht weiß zu schreiben – oder: wie Journalismus unser Weltbild prägt« ist ein sehr angenehm geschriebenes Buch, das sich in einem Stück lesen läßt, und es ist sympathisch, weil die Autorin entgegen der üblichen journalistischen Praxis in erster Linie Fragen an sich selbst hat. Charlotte Wiedemann, Jahrgang 1954, die für Geo, Die Zeit und Le Monde Diplomatique geschrieben hat, bringt grundlegende – aber offenbar nicht alle – Voraussetzungen mit, nicht nur relevante Fragen zu stellen, sondern auch zu beantworten. Nicht wenige ihrer Kollegen und Kolleginnen schreiben – freiwillig oder durch ihre Arbeitgeber genötigt – über riesige, nur aus weiter europäischer Entfernung gleichartig wirkende Räume. Sie sitzen häufig in irgendwelchen teuren Hotels in den wenigen Zentren des Auslandsjournalismus wie z. B. in Kairo und berichten von dort über den gesamten Nahen Osten und ganz Nord-Afrika. Im Gegensatz zu ihnen hat die Autorin entweder längere Zeit in einer bestimmten Region (z. B. Südostasien) gelebt oder ist viel dort gereist (z. B. Mali). Auf dieser Grundlage und mit einem hohen Maß an Empathie für die Menschen und Kulturen, die sie dort – vor allem im vielgestaltigen islamischen Raum – angetroffen hat, benennt sie alle möglichen objektiven und subjektiven Hindernisse, denen Journalisten beim Kennenlernen solcher Kulturen und bei der Berichterstattung ausgesetzt sind. Zunehmend schränken z. B. Zentralredaktionen Kollegen vor Ort durch Vorgaben ein. Oder: Die wachsende Flut von miteinander nicht verbundenen »Fakten«, die oft – bewußt oder unbewußt – nur Falschmeldungen sind, erschweren ein Verständnis von Zusammenhängen. Das wiederum erleichtert es, Leser mit einer »großen Erzählung« zu beglücken – und zu hintergehen.

Charlotte Wiedemann, die für einen Journalismus des Respekts gegenüber anderen Kulturen einerseits und dem hiesigen Leser andererseits eintritt, hat ein im wesentlichen impressionistisches Buch geschrieben. Aus der Vielzahl der zweifellos zutreffenden Beobachtungen ergibt sich ein Bild, das ein berechtigtes Gefühl des Unwohlseins hervorruft. Um darüber hinaus eine realistische Alternative aufzuzeigen, bedarf es eines theoretischen Rahmens, der nicht der bei Wiedemann tendenziell zu Grunde liegende Kulturpartikularismus sein kann. Der theoretische Rahmen ist üblicherweise der vom herrschenden System vorgegebene – das ist ebenso bedauerlich wie unvermeidbar. Da die herrschende Ideologie notwendigerweise die der Herrschenden ist, bedarf es nur selten des ordnenden Eingriffs irgendwelcher Zentralredaktionen.

Die Autorin kritisiert so viele Aspekte in der Berichterstattung der (europäischen) Medien über außereuropäische Gesellschaften, ohne deutlich zu machen, daß und warum diese mehr oder weniger nicht anders sein können als sie sind. Ungeachtet dieser Einschränkung hat sie ein überaus anregendes Buch geschrieben.

Charlotte Wiedemann: Vom Versuch, nicht weiß zu schreiben – oder: wie Journalismus unser Weltbild prägt. PapyRossa Verlag, Köln 2012, 186 Seiten, 12,60 Euro

* Aus: junge Welt, Montag, 15. Oktober 2012


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