Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Warnung vor Berlin

Nach Hackerangriff abgeschalteter Nachrichtendienst wieder online. Bericht über deutsche Offensive in Europa veröffentlicht

Von André Scheer *

Die Homepage des US-Nachrichtendienstes Stratfor ist am Mittwoch wieder online gegangen. Am 24. Dezember war die Website von bislang unbekannten Tätern gehackt worden; unzählige Kundendaten fielen dabei in die Hände der Angreifer, unter ihnen offenbar die so bekannter Politiker wie dem früheren US-Außenminister Henry Kissinger und George Bushs ehemaligem Vizepräsidenten Dan Quayle. Auch Hunderte NATO-Militärs sollen sich unter den Kunden des Portals befunden haben. Die Täter nutzten die erbeuteten Nummern von Kreditkarten offenbar auch, um über die Weihnachtstage Spenden an Hilfsorganisationen oder linke Gruppen zu überweisen. So habe das Amerikanische Rote Kreuz Spenden von Regierungs- und Bankangestellten erhalten, die davon nichts wußten, berichtete die New York Times. Zudem verschickten die Hacker Mails an die Kunden des Dienstes, die angeblich von Stratfor-Chef George Friedman stammten und eine Erklärung der Gruppe als »offizielles Stratfor-Statement« verlinkt hatten.

Unklar ist nach wie vor, wer hinter der Aktion steckt. Die Täter selbst schreiben in ihrer Erklärung, sie seien Teil des Netzwerks »Anonymous«. Unter diesem Namen agieren seit etwa 2008 vor allem im Internet untereinander lose koordinierte Gruppen und Einzelpersonen und führen Aktionen gegen Zensurmaßnahmen von Behörden und Konzernen durch. Erstes Ziel solcher Kampagnen war die Scientology-Sekte, nachdem diese die Verbreitung eines kompromittierenden Videos im Internet verhindern wollte. Andere Attacken richteten sich im vergangenen Jahr etwa gegen die Internetseiten iranischer Behörden, gegen Zensurmaßnahmen nordafrikanischer Regime, Atomkonzerne und andere Einrichtungen. Auch zu der Veröffentlichung von Kontaktdaten deutscher Neonazi-Strukturen durch »nazi-leaks.net« im Dezember bekannte sich Anonymous.

Kurz nach dem Angriff auf Stratfor kursierte im Internet jedoch eine ebenfalls im Namen von Anonymous abgegebene Erklärung, in der sich das Netzwerk von der Aktion distanzierte: »Anonymous greift keine Medien an.« In der Erklärung wird daran erinnert, daß Stratfor auch der US-Administration schon unbequem geworden sei, etwa als der Dienst kürzlich über einen gescheiterten Putschversuch berichtete, mit dem die US-Administration vor Beginn der Irak-Invasion versucht habe, den damaligen Staatschef Saddam Hussein zu stürzen. Deshalb könnten hinter der Aktion Provokateure stecken, so die mit der Losung der Gruppe »Wir sind Anonymous, wir sind Legion, wir vergeben nicht, wir vergessen nicht, erwartet uns« unterzeichnete Mitteilung.

Stratfor, »Strategic Forecasting« (Strategische Vorhersagen), ist ein privater Nachrichtendienst, der sich auf weltweite Lageanalysen spezialisiert hat und regelmäßig Monats- und Jahresprognosen über politische Entwicklungen veröffentlicht. Einzelne Informationen wurden bislang kostenlos angeboten, während die umfangreichen Untersuchungen kostenpflichtig abonniert werden mußten. Als Konsequenz aus der Hackerattacke hat der Dienst nun aber mitgeteilt, bis auf weiteres sämtliche Inhalte kostenfrei zugänglich zu machen. Dazu gehört auch die am Mittwoch (11. Jan.) veröffentlichte Jahresvorschau für 2012, ein umfangreicher Bericht über weltweit zu erwartende Entwicklungen. Mit Blick auf Europa weist Stratfor etwa darauf hin, daß Deutschland die gegenwärtige Finanzkrise dazu nutze, seine überlegene finanzpolitische und ökonomische Position auszuspielen, um die Strukturen der Euro-Zone in seinem Sinne umzubauen und die Staaten zu zwingen, ihre Budgethoheit »einer fremden Macht zu opfern«. Das sei der bislang dramatischste Verlust staatlicher Souveränität im »europäischen Experiment«. Berlin sei es bereits gelungen, die Regierungen in Griechenland und Italien durch »nicht gewählte frühere EU-Bürokraten« zu ersetzen, die nun in ihren Ländern »Teile des deutschen Programms« durchsetzen. Das werde europaweit zu wachsender Feindschaft gegenüber Deutschland und der EU führen. Zwar mache die Tatsache, daß in den betroffenen Ländern 2012 kaum wichtige Wahlen angesetzt sind, die Durchführung der von Berlin geforderten Einschnitte zunächst einfacher. Zugleich sei es dadurch aber nicht möglich, zu erwartende Proteste hin zu einer Stimmabgabe für »zentristische Oppositionsparteien« zu kanalisieren. Das könne »nationalistische und extremistische Bewegungen ermutigen« und zu »sozialen Unruhen« führen.

* Aus: junge welt, 13. Januar 2012


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