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Weiße Flecken

Wie die Standortpolitik der Nachrichtenagenturen die Empathie für die Opfer verschiedener Kriege bestimmt

Claudia Wangerin *

In regelmäßigen Abständen müssen sich Freunde Palästinas in der BRD fragen lassen, warum in dieser kriegerischen Zeit gerade der Nahostkonflikt ihre Gemüter so erhitzt – ob sie vielleicht den Juden Auschwitz nicht verzeihen können und sie daher auf Biegen und Brechen als »Tätervolk« sehen wollen. Während die automatische Gleichsetzung jeder Kritik am Staat Israel mit Antisemitismus als böswillig bezeichnet werden kann, ist die erste Frage durchaus berechtigt.

Im vergangenen Jahr stieg die Zahl der Kriege in aller Welt auf den höchsten Stand seit 1945. Laut Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung (HIIK) gab es 2011 weltweit 20 Kriege – weitere 18 Konflikte definierten die Politikwissenschaftler als begrenzte Kriege (»limited wars«). Grundlage der Bewertung sind erfaßte militärische Maßnahmen sowie Todesopfer und Flüchtlingszahlen.

Zu den Konflikten, die im vergangenen Jahr zu Kriegen eskalierten, zählte das Institut die Auseinandersetzungen in Libyen, Syrien, dem Jemen und der Türkei. Die Kämpfe zwischen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und dem türkischen Staat eskalierten demnach zum Krieg, als die Armee im August 2011 großangelegte Operationen im Grenzgebiet zum Irak startete.

Außerdem wurden schon seit längerem bestehende Konflikte in Nigeria und an der Côte d’Ivoire zu Kriegen ausgeweitet. Sie rufen in Deutschland viel weniger Emotionen hervor als seit vielen Jahren der Nahostkonflikt und zur Zeit der in Syrien. Daß dürfte daran liegen, daß hierzulande kaum jemand etwas über sie weiß.

Das könnte als relative Ignoranz der Durchschnittsdeutschen gegenüber den Problemen des schwarzen Kontinents interpretiert werden – allerdings ist es auch deutlich schwieriger, an entsprechende Informationen zu kommen. Kleine bis mittelgroße Zeitungen sind hier weitgehend von der Standortpolitik der Nachrichtenagenturen abhängig.

Die älteste internationale und heute weltweit drittgrößte Nachrichtenagentur AFP (Agence France Presse) unterhält laut Standortübersicht auf dem afrikanischen Kontinent 16 Büros, also in weniger als jedem dritten Staat eines. Deutschlands größte Nachrichtenagentur dpa beschäftigt nach eigenen Angaben im Nahen und Mittleren Osten 40 Reporter, davon vier in Israel und drei in den palästinensischen Gebieten – in ganz Afrika dagegen insgesamt nur 22. Das ist bei über 50 afrikanischen Staaten noch nicht mal ein halber Korrespondent pro Land. Zur Zahl der Reporter in Syrien macht die Agentur aus Sicherheitsgründen grundsätzlich keine Angaben. Auf Nachfrage von junge Welt erklärte ein Sprecher der dpa, ihre Präsenz in den verschiedenen Weltregionen richte sich »nach dem Nachrichtenaufkommen«, aber auch nach »dem Interesse der Kunden unserer Dienste beziehungsweise dem Interesse ihrer Nutzer/Leser«.

Letzteres dürfte aber auch davon abhängig sein, wie viele spektakuläre und Mitgefühl auslösende Bilder die Medienkonsumenten schon aus dem jeweiligen Krisengebiet erreicht haben. Oder welchen Aufwand sie treiben müssen, um die Hintergründe zu verstehen, oder ob durch die Berichterstattung schon ein klares Gut-Böse-Schema vorgegeben wird – das, je nach Plausibilität, auch kritische Nachfragen provozieren kann. Das »Nachrichtenaufkommen« wird wiederum von den Stellungnahmen deutscher Politiker zu Konflikten im Ausland bestimmt. Je mehr geostrategische Bedeutung westliche Repräsentanten eine Auseinandersetzung zumessen, desto intensiver dürfte die Berichterstattung, erst mal ganz unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt, sein.

Für Flüchtlinge aus Krisenregionen hat die Medienpräsenz der Konflikte, vor denen sie geflohen sind, drastische Auswirkungen, sobald sie mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft in Kontakt kommen. Von Alltagsrassismus und behördlichen Schikanen werden auch diejenigen aus Syrien nicht verschont bleiben. Der Generalverdacht, ohne wirklichen Grund geflohen zu sein, dürfte sie aber seltener treffen als Flüchtlinge aus Kriegs- oder Bürgerkriegsgebieten, über die nicht so intensiv berichtet wird. Wer wegen des »Diktators Assad« seine Heimat verlassen hat, stößt tendenziell nicht nur auf mehr Verständnis als jemand, der vor der Armee des NATO-Mitgliedslandes Türkei geflohen ist, sondern auch als derjenige, der in einem von westlichen Medien »vergessenen« afrikanischen Konflikt um Leib und Leben fürchten mußte.

Bleibt ein afrikanisches Land mal mehrere Tage hintereinander in den Hauptnachrichten deutscher Medien, dann findet dort entweder die Fußballweltmeisterschaft statt – wie 2010 in Südafrika – oder die schwerste Dürre seit Jahrzehnten bedroht Millionen Menschen. Oder es hat einen Massenmord gegeben – wie 1994 in Ruanda, wo nach verschiedenen Schätzungen 500000 bis 1000000 Menschen starben, als der schon lange schwelende Konflikt zwischen Hutu und der Tutsi-Minderheit eskalierte. Grauenvolle Bilder gingen um die Welt. Dreiviertel aller Tutsi, die damals im Land registriert waren, sollen den Massakern zum Opfer gefallen sein. Ein Versuch, die Hintergründe aus der Kolonialgeschichte und der einstigen Privilegierung der Tutsi heraus zu erklären, findet sich in Peter Scholl-Latours Buch »Afrikanische Totenklage«, das 2001 erschien.

»Wenn wir uns am Bild der Massenmedien orientieren, lernen wir heute alles darüber, wie Afrikaner sterben, aber nichts darüber, wie sie leben«, bemerkte der schwedische Bestsellerautor Henning Mankell 2006 in einem Essay, das auf Deutsch in der Wochenzeitung Die Zeit erschien. Das Zitat findet sich auf der Internetseite der alternativen Nachrichtenagentur afrika.info mit Sitz in Salzburg. Und um genau dies zu ändern, bietet sie österreichischen Medien Hintergrundberichte von afrikanischen Journalisten an.

* Aus: medien, Beilage der jungen Welt, Mittwoch, 15. August 2012


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