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Maßlose Vernichtung

Vor 70 Jahren marschierte die Wehrmacht in Ungarn ein. Eine breite Masse Okkupierter übernahm die Judendeportation

Von Sándor Horváth *

Am 19.März 1944 marschierte die deutsche Wehrmacht nach Ungarn ein. In dieser Entscheidung verknüpften sich, wie Christian Gerlach und Götz Aly in ihrem Buch »Das letzte Kapitel. Der Mord an den ungarischen Juden« gezeigt haben, mehrere Motive. Zwar betrachtete das Hitler-Regime den Krieg im Frühjahr 1944 noch keineswegs als verloren, doch andere realpolitisch denkende Politiker aus den verbündeten Staaten zweifelten immer mehr am deutschen Sieg. Der ungarische Ministerpräsident Miklós Kállay (1942–1944) hatte schon längere Zeit vor dem Einmarsch der Deutschen heimlich Kontakte zu den Westalliierten gesucht.

Er tat dies vor dem Hintergrund von Stalingrad und der desaströsen Niederlage und Vernichtung der ungarischen 2. Armee, die ab Sommer 1942 aus selbstverantwortetem Eifer – also ohne eine Aufforderung von Hitler – an der Seite der Wehrmacht und der italienischen 8. Armee an der Invasion gegen die Sowjetunion teilgenommen hatte. Hinzu kam die Landung der Alliierten in Süditalien, die im Sommer 1943 zum Fall Mussolinis geführt hatte.

Die Bemühungen Kállays blieben den Deutschen nicht verborgen, und diese wollten einen Seitenwechsel oder den Kriegsaustritt des ungarischen Verbündeten auf jeden Fall verhindern. Außerdem sollte Ungarn in jeder Hinsicht für den weiteren Krieg mobilisiert und genutzt werden, weil die sowjetischen Gebiete und ihre Ressourcen so gut wie verloren waren. Last but not least näherte sich die Rote Armee bereits der ungarischen Grenze, und es sollte verhindert werden, daß diese auf das ungarische Territorium vordrang.

In knapper Form faßte der Entwurf einer Denkschrift des Reichssicherheitshauptamts am 11. März, also kurz vor dem Einmarsch, die Interessen der Naziführung zusammen: »1. Volle Ausschöpfung aller wirtschaftlichen insbesondere landwirtschaftlichen Hilfsquellen zur Sicherung der deutschen und europäi­schen Ernährungsbasis im Hinblick auf den Ausfall der ukrainischen Gebiete. 2. Einsatz aller Menschenreserven für die Kriegsführung und 3. volle Einspannung, um auch die rumänischen Truppen für den Einsatz an der Ostfront freizumachen.« Auch in Sachen Rüstungsproduktion setzten die Nazis auf Ungarn; beabsichtigt war im speziellen der Bau von Jagdflugzeugen, und zwar unter anderem geschützt unter Tage. Neben diesen »handfesten« oder »materiellen« Gründen gab es in den Augen Hitlers in Ungarn noch eine andere Gefahr, und diese war gesellschaftlicher Natur. Seiner Meinung nach war das Land mit seiner rückständigen halbfeudalen Sozialstruktur für den Bolschewismus sehr anfällig. Eine Wende in diese Richtung kam für die deutsche Führung einem Alptraum gleich.

Wenn man all diese Aspekte berücksichtigt, kann man die Absicht, die ungarischen Juden – die in Europa als letzte von der Vernichtung noch weitgehend verschont geblieben waren – in den Tod zu schicken, keineswegs als erstrangigen Grund für den Einmarsch bezeichnen. Dennoch kam es, als Folge des deutschen Einmarschs in Ungarn, zu einer der intensivsten Judenvernichtungswellen des gesamten Zweiten Weltkrieges.

Besonders hartes Vorgehen

Mit der Wehrmacht kamen auch die deutsche Sicherheitspolizei und der Sicherheitsdienst mit acht Einsatzkommandos ins Land. Sieben dieser Verbände waren regional verteilt, sie beschäftigten sich mit klassischen nachrichtendienstlichen Tätigkeiten und verhafteten in Zusammenarbeit mit den ungarischen Behörden vermeintliche Oppositionelle. Das achte Einsatzkommando stand unter der Leitung von Adolf Eichmann und war für die antisemitischen Maßnahmen zuständig.

Die Deutschen waren in ihrer Judenpolitik, ungeachtet ihrer Tathoheit, durchaus auf die Kooperation der besetzten Länder angewiesen. Die Umsetzung der antisemitischen Maßnahmen und die Deportationen der europäischen Juden geschahen größtenteils mit Hilfe des Staatsapparats und der Exekutive der besetzten Gebiete. Dort, wo es weniger oder keine Kooperation gab, waren auch weniger Tote zu verzeichnen. In Frankreich, in einem Land, das von den Deutschen schon vier Jahre vor Ungarn teilweise und dann ein Jahr vor dem Einmarsch der Deutschen in Ungarn gänzlich okkupiert worden war, hat ein Dreiviertel der Juden überlebt, unter jenen mit französischer Staatsbürgerschaft fast alle. In Dänemark wurde der jüdischen Bevölkerung vor den Augen der Deutschen auf Schiffen ins benachbarte Schweden zur Flucht verholfen. Auch in der unmittelbaren Nachbarschaft zu Ungarn, in Rumänien und in Bulgarien, sind sie weitgehend verschont geblieben. Im viel kleineren und schwächeren Nachbarland Slowakei waren über 20 Prozent der Juden auf Intervention der slowakischen Regierung der Deportation entgangen. Die ungarische Regierung, die Behörden und ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung kooperierten dagegen bereitwillig mit der Besatzungsmacht. Schon zwei bis drei Wochen nach dem Einmarsch verordnete die ungarische Regierung die Ghettoisierung der Juden, und in atemberaubender Geschwindigkeit folgte deren Deportation nach Auschwitz.

Ungarischer Antisemitismus

Dabei darf nicht außer acht gelassen werden, daß Ungarn unter allen von den Deutschen besetzten Ländern – der Einmarsch wurde offiziell nicht als Besetzung bezeichnet – das vergleichsweise größte Maß an Eigenständigkeit zugestanden worden war. Der Reichsverweser Miklós Horthy hatte z.B. durchaus die Macht, im Juni 1944, kurz vor dem geplanten Beginn des Abtransports der Budapester Juden, die Deportationen zu stoppen. Horthy hielt die in der Hauptstadt wohnenden Juden, anders als die auf dem Land lebenden, für assimilierte und dadurch wertvollere Mitglieder der ungarischen Gesellschaft. Umgekehrt spielten bei der Deportation von 400000 Juden aus der ungarischen Provinz, die vor dem Deportationsstopp in weniger als zwei Monaten abgewickelt worden war, die ungarische politische Führung, Verwaltung, Polizei, Gendarmerie und nicht zuletzt die zivile Bevölkerung eine entscheidende Rolle.

Während des gesamten Vorgangs der Ghettoisierung, der Verfrachtung in Waggons zum Zwecke der Deportation und schließlich beim Transport der dortigen jüdischen Bevölkerung durch ungarisches Territorium haben die Deutschen keinen der Verfolgten angerührt. Eichmanns Kommando war dafür von vorherein nicht ausgerichtet; es bestand aus nicht mehr als 60 bis 80 Mitarbeitern, Chauffeure, Sekretärinnen usw. inbegriffen. Auf den traditionellen und verläßlichen ungarischen Antisemitismus und die Autoritätshörigkeit der Menschen konnten die Besatzer dagegen mit Sicherheit bauen.

Ungarn war kein unschuldiges Opfer der Nazis

Das Land hatte sich bereits 1919 mit seiner antisemitischen Gesetzgebung, konkret einem antijüdischen Numerus Clausus beim Hochschulzugang, zum Vorreiter entsprechender Maßnahmen gemacht – zu einem Zeitpunkt, als Hitler von derartigem höchstens träumen konnte. Die drei »Judengesetze« von 1938, 1939, 1941 und viele weitere Rechtsvorschriften schränkten schließlich die Lebensmöglichkeiten der ungarischen Juden schon vor dem deutschen Einmarsch in zunehmend brutaler Weise ein.

Als die deutschen Besatzer dann da waren, brachten sie ausgereifte und wohlerprobte Methoden zum Einsatz, die dazu dienten, die Beteiligung der Bevölkerung an der Judenverfolgung zu organisieren. Nachbarn und Anrainern wurde das Verbrechen dadurch schmackhaft gemacht, daß die enteigneten Besitzstücke, Möbel, Einrichtungsgegenstände, Kleider und sonstige Habseligkeiten, aber auch die nach der Ghettoisierung leerstehenden Wohnungen unter den Zivilisten verteilt wurden. Es steigerte sich die Lust daran, »den Juden« loszuwerden, und parallel dazu der Haß auf die Juden zu fast unvorstellbarer Grausamkeit.

Die Zusammengepferchten lebten oft wochenlang ohne Verpflegung und mußten unter Mißhandlungen zur ungarischen Grenze marschieren. Die Menschen wurden mit Kolben, Peitschen und Stöcken malträtiert. Im Herbst und im Winter mußten sie bei eisigem Wetter im Freien oder in Schleppkähnen auf der Donau schlafen. Viele stürzten sich aus Verzweiflung in den Fluß, oder die Gendarmen stießen sie vom Steg aus hinein. Auch den in den Waggons Eingesperrten ging es nicht besser. Viele Deportierte berichteten nach dem Krieg darüber, daß sich die Bedingungen verbesserten, als sie an der Grenze von den Deutschen übernommen wurden. Die Türen der Güterwagen wurde zum ersten Mal geöffnet, sie bekamen endlich etwas zu trinken.

* Aus: junge Welt, Samstag, 15. März 2014


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