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"Alles ist abwartend"

Die Stimmung der deutschen Bevölkerung zu Beginn des Zweiten Weltkrieges und ihr Verhältnis zu den Machthabern

Von Kurt Pätzold *

Wir stehen schwereren Aufgaben gegenüber als andere Staaten und andere Länder: Zu viele Menschen auf einem zu kleinen Lebensraum, es mangelt an Rohstoffen, mangelt an Anbaufläche, und trotzdem: Ist Deutschland nicht schön? Ist Deutschland nicht trotzdem wunderbar? Lebt unser Volk nicht trotzdem so anständig? Mögen Sie alle mit irgend etwas anderem tauschen?« Die Fragen hatte Hitler im Oktober 1937 an die Bauernmassen beim Reichs­erntedankfest auf dem Bückeberg bei Hameln gerichtet und, wie zuvor verabredet, antworteten ihm aus der Menge damals Tausende mit dem Ruf »Niemals!« Die dort Zusammengebrachten hatten dann auch sowohl ein Friedensbekenntnis als auch eine Drohung gehört: »Wir haben keine Lust, mit irgend jemandem Händel anzufangen. Aber es soll auch jeder wissen: Den Garten, den wir uns bestellt haben, den ernten wir auch allein ab, und niemand soll sich einbilden, jemals in diesen Garten einbrechen zu können! Das können sich die internationalen jüdischen Bolschewistenverbrecher gesagt sein lassen: Wo immer sie auch hingehen – an der deutschen Grenze stoßen sie auf ein eisernes Stopp.« Nur zwei Jahre später trat an die Stelle der Devise »Deutschland arbeitet« eine andere: »Deutschland kämpft«.

Am Morgen des 1. September 1939 gab es für all jene ein bitteres Erwachen, die geglaubt hatten, der »Führer« werde mit seiner Außenpolitik wieder wie im Jahr zuvor am Rande des Krieges entlangsteuern und ein »zweites München« erreichen. An beruhigenden Erklärungen, mit denen diese Stimmung gestützt wurde, hatte es nicht gefehlt. Eine gab der Oberbefehlshaber des Heeres, Walther von Brauchitsch, am 10. August 1939 in einer Ansprache vor Rüstungsarbeiten ab, als er ihnen sagte, »daß der Führer niemals das Leben des deutschen Menschen leichtfertig aufs Spiel setzen« werde.

Nun war Krieg. Angeblich mußten die Deutschen in Polen, wie schon von denen in der Tschechoslowakei 1938 behauptet worden war, vor der Ausrottung gerettet und die Danziger »heim ins Reich« geholt werden. Zwei Tage später gingen in Berlin die Kriegserklärungen aus London und Paris ein, womit Hoffnungen auf einen kurzen, begrenzten Waffengang eigentlich zerrinnen mußten. Dennoch waren viele Deutsche nicht bereit, sich der Tatsache zu stellen, daß eine militärische Auseinandersetzung begonnen hatte, die in den Zweiten Weltkrieg münden würde und bis zum vollständigen Sieg der einen oder anderen Seite ausgefochten und ertragen werden mußte. Und die deutsche Propaganda half bis in die Sprachregelungen hinein, von dieser Perspektive zunächst abzulenken. Der Gebrauch des Wortes »Krieg« wurde vermieden und statt dessen von einer »Auseinandersetzung«, einem »Kampf« oder davon gesprochen, daß nun »Gewalt gegen Gewalt« gesetzt würde. Die Vokabel »Krieg« tauchte zunächst nur bei Erwähnung der Gegner auf, die ihn angeblich gewollt hatten und bei denen es »Kriegsinteressenten« und »Kriegshetzer« gab.

Millionen waren an diesem ersten Septembertag geistig und mental gleichsam überrumpelt, manche bis zur Erstarrung. Freilich: nicht ohne eigenes Verschulden. Vielerorts hatten sich in den Augusttagen die auf den Beginn des Feldzugs gerichteten Mobilisierungen durch Augenschein wahrnehmen lassen. »Reservisten mit Rucksack und Papierkarton drängen sich in den Straßen, auf den Bahnsteigen, in den Wartesälen.« Und: »Die Truppen rollen gen Osten.« So lauten Tagebucheintragungen der Schriftstellerin und Journalistin Ruth Andreas-Friedrich, die sich später einer Widerstandsgruppe anschloß.

Selbst ein nur flüchtiger Blick in die im Deutschen Reich erscheinenden Zeitungen hatte schon Wochen vor dem Ausbruch der Vorkriegskrise erkennen lassen, daß die Forderungen an den polnischen Nachbarn ständig erweitert und provokatorischer wurden. Stammtischrunden erörterten, ob die Westmächte die Durchsetzung von Ansprüchen an den östlichen Nachbarn hinnehmen würden oder, geschähe das nicht, ob Deutschland sich dann mit Rußland verbünden werde oder ob das die Westmächte tun würden. Das Fazit aller Beobachtungen des als Jude verfolgten Romanisten Victor Klemperer, der mit seiner »arischen« Frau in Dresden lebte, hatte im Juni 1939 und auch später noch gelautet: »Aber das Volk glaubt wirklich an Frieden. Er (gemeint ist Hitler; K.P.) wird Polen nehmen (oder aufteilen), die ›Demokratien‹ werden nicht einzugreifen wagen.« Diese Vorhersage sollte sich als Irrtum erweisen.

Kein Hurrageschrei

In den letzten Augusttagen wuchsen Unsicherheit und Unbehagen in der Bevölkerung erkennbar. Zu den Beobachtungen des US-amerikanischen Schriftstellers und Journalisten William L. Shirer, der seit 1934 in Berlin lebte, gehörte, daß das deutsche Volk »noch nicht wirksam auf einen Krieg vorbereitet worden« sei und sich »unter den Massen keinerlei Kriegsbegeisterung registrieren« lasse. Am 27. August, einem Sonntag, wurde morgens durch Rundfunk und alle Zeitungen die Einführung der Rationierung von Nahrungsmitteln und weiteren Waren des täglichen Bedarfs bekanntgemacht. Zu diesen Lebensmitteln gehörten Milch und Milcherzeugnisse, Öle und Fette, Fleisch und Fleischwaren, sogenannte Nährmittel, Zucker und Marmelade sowie Seife, andere Waschmittel und weitere Gebrauchsartikel. Zudem wurde über die Bezugsscheinpflichtigkeit von Textilien, Schuhen und Leder informiert. Diese Meldungen versah der Landwirtschaftsminister und Reichsbauernführer Richard Walther Darré mit der beruhigenden Erklärung: »Auf ernährungspolitischem Gebiet kann sich die Situation während des Weltkrieges nicht wiederholen.« Die Bezugnahme auf den Hunger und das Verhungern im Ersten Weltkrieg, als »Situation« umschrieben, verdeutlichte, daß in der älteren Generation die Erinnerung an die Leiden und das Sterben nicht verlorengegangen war, die erst gut 20 Jahre zurücklagen. Tags darauf notierte Shirer in sein Tagebuch: »Der Durchschnittsdeutsche macht heute einen entmutigten Eindruck.« Einen weiteren Tag später bekamen die Stuttgarter einen Vorgeschmack davon, was ihnen als Kriegsdisziplin abgefordert werden würde. Es wurde mitgeteilt, in der Stadt seien zwei Verkäuferinnen in »Schutzhaft« genommen worden, weil sie versucht hatten, rationierte Waren beiseite zu schaffen.

Dann war der Schritt der deutschen Machthaber über die Schwelle des Krieges erfolgt, und der war bei der Bevölkerungsmehrheit unpopulär. Gegründet in den Erfahrungen der Jahre von 1914 bis 1918 saß der Wunsch nach Frieden tief, und von den ersten Stunden des neuen Krieges an wurde der mit dem voraufgegangenen verglichen. Die Ablehnung des Krieges und die verbreitete Furcht, er könne wieder Jahre dauern, waren den Faschisten an der Staatsspitze bewußt. Auch bei einem Blick aus den Fenstern der Reichskanzlei auf den Wilhelmplatz wurde am 3. September die Aversion der Bevölkerung deutlich. Dort hatten sich am 3. September 1939 nur etwa 250 Personen um Lautsprecher versammelt und hörten die Mitteilung von Großbritanniens Kriegserklärung. »Nach Beendigung der Durchsage gab es nicht einmal ein Murmeln. Sie standen unverändert dort. Betäubt. Die Leute können es noch nicht fassen, daß Hitler sie in den Weltkrieg geführt hat.« So wieder der Augenzeuge William L. Shirer, der diese Beobachtungen mit Berichten vom August 1914 verglich, mit Tagen, in denen in Deutschland nach einem Wort Kurt Tucholskys eine »Gassenbesoffenheit« ausgebrochen war: »Heute: keine Begeisterung, kein Hurrageschrei, keine Hochrufe, kein Blumenstreuen, kein Kriegsfieber, keine Kriegshysterie. Nicht einmal Haß auf Franzosen und Briten …« Und auch die Analyse aufgrund der Informationen, die von Sozialdemokraten aus Deutschland stammten, in Paris zu den SOPADE-Berichten zusammengefaßt, besagten, daß bei weitem nicht alle »verrückt« wären. »O nein, Begeisterung gibt es überhaupt nirgends.« Auch ganz unterschiedlich gesonnene britische Besucher Deutschlands hatten die verbreitete Ablehnung des Krieges festgestellt.

Polizei erstickt kleinste Proteste

In dieser Situation griff die Propaganda zu der 1914 von der kaiserlichen Regierung benutzten Formel vom »uns aufgezwungenen Krieg«. Besonderer Wert wurde auf die Beteuerung gelegt: »Der Führer hat diesen Krieg nicht gewollt«. Englands angeblich von Juden gelenkte Regierung wurde, unter Aussparung des französischen Gegners, als der alleinige Kriegsinteressent hingestellt. Angewidert nahm die Minderheit der Deutschen, die sich ein eigenes Urteil bewahrt hatte, die permanenten Unschuldsbeteuerungen der Nazipropaganda zur Kenntnis. Diese Stimmungsmache besaß freilich einen Nachteil. Es war ihr – nolens volens – ein Bedauern über den verlorenen Frieden beigemischt, eine Stimmung, die, jedenfalls wenn sie dauerte, dem Ziel der Machthaber nicht förderlich sein konnte, die Bevölkerung zu äußersten Anstrengungen zu mobilisieren.

Doch es ließ sich darauf vertrauen, daß militärische Siege, zumal wenn sie gegen den hoffnungslos unterlegenen polnischen Gegner ohne große eigene Opfer erreicht waren, die Stimmung wandeln würden und auch eine Gewöhnung an die einschneidenden Veränderungen eintreten werde. Einmal im Krieg, würden die Deutschen, wozu die Erinnerung an die Folgen der Niederlage 1918 beitrug, ihn vor allem nicht verlieren wollen. Bei diesem Wunsch ließen sich die Massen packen und von der Führung gleichsam an den Haken nehmen. Zudem sorgten Sicherheitsdienst und Gestapo, im Oktober 1939 im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) unter dem Befehl Reinhard Heydrichs zu einem Instrument der Überwachung und des Terrors zusammengeführt, dafür daß Kriegsgegner mit illegalen Aktionen nicht zum Zuge kamen. Von den ersten Kriegstagen an wurde den Deutschen klargemacht, daß jegliche Verweigerung gegenüber den Kriegsanforderungen streng geahndet werden würde. Die Zeitungen veröffentlichten am 8. September eine Mitteilung Heinrich Himmlers in seiner Eigenschaft als Chef der Deutschen Polizei, daß Hans (Johann) Heinen, ein Kommunist, der bereits Konzentrationslager- und Zuchthaushaft durchlebt hatte, nur weil er die Teilnahme an »Sicherungsschutzaufgaben« verweigerte, in das KZ Sachsenhausen gebracht und dort erschossen worden sei.

Nazis vorsichtig

Nun mochte im hereinbrechenden Herbst 1939 niemand, gehörte er nicht zur Minderheit der Antifaschisten oder Hitlergegner, an einen zweiten verlorenen Angriffskrieg denken. Erst etwa zwei Jahre später, als der zweite Feldzug im Osten vor Moskau ins Stocken geriet und der dritte Kriegswinter begann, dämmerte es einem geringen Teil der Bevölkerung, daß der Krieg mit einer deutschen Niederlage enden kann. Die Situation des Jahres 1939 aber beschrieb aus einem zeitlichen Abstand der 1940 nach Deutschland entsandte US-amerikanische Journalist Howard K. Smith so: »Im Grunde hängen sie (die Deutschen; K.P.) an den Nazis dran, wie ein Mann, der die überraschende Entdeckung gemacht hat, daß er den Schwanz eines Löwen in den Händen hält, und der sich einfach weiter daran festhält – nicht weil er die Nähe des Löwen so toll findet, sondern weil er unsagbare Angst davor hat, was wohl passiert, wenn er losläßt. (…) Der Hauptgrund, weshalb sich die Deutschen am Schwanz des Löwen festklammern, ist folgende quälende Frage, die ihnen wie ein Alptraum im Nacken sitzt: Wie wird es ihnen ergehen, wenn sie den Krieg nicht gewinnen?«

Und diese Furcht, wie Smith ebenfalls bemerkte, nahm mit jeder Untat und jedem an anderen Völkern begangenen Verbrechen zu. Zur Abwendung einer erneuten Kriegsniederlage mobilisierten Millionen entsprechend den Forderungen der Machthaber ihre Willenskräfte, denen sie, von der faschistischen Propaganda mißgeleitet, ohnehin einen übermäßigen Anteil an Erfolgen oder Niederlagen zumaßen. Als die dänische Schriftstellerin Karen Blixen, begleitet und kontrolliert von Beauftragten des Propagandaministeriums, Deutschland im März 1940 besuchte, stieß sie auf diese Erscheinung und beschrieb sie so: »So beherrscht den Fremden in Berlin überall der Eindruck einer ungeheuren Willensanspannung. Die Willenskraft ist die Leistung des Dritten Reiches (…) und je nachdem, ob man an die Macht des Willens glaubt, kann man an dessen Evangelium glauben.«

In den ersten Septembertagen 1939 hatten die Machthaber auf jede Begeisterung demonstrierende Massenkundgebung ihrer Aktivisten in der SA und SS verzichtet, die Goebbels im Berliner Sportpalast nach bewährtem Muster leicht zu Kriegsgeschrei hätten aufpeitschen können. Doch sie wären mit einer derartigen Kundgebung nur Gefahr gelaufen, die Partei von der Masse zu isolieren. Über die ausgebliebene Wortmeldung von Joseph Goebbels wunderte sich auch Victor Klemperer. Er schrieb am zehnten Kriegstag in seine Chronik: »Wo ist Goebbels? Er schweigt seit Kriegsausbruch, nein, schon seit Russenbund (gemeint ist der deutsch-sowjetische Nichtangriffsvertrag vom 23. August 1939; K.P., siehe jW-Thema vom 23.8.2014).«

Die Nazipropaganda in jener frühen Kriegszeit war auf Moll gestimmt: Die Deutschen wüßten um die Schwere des Krieges, sie gingen in ihn ernst wie in ein Gebet. Doch befand sich Goebbels gleichsam auf dem Sprung, die Deutschen mit den schrillen Tönen aus Kriegsposaunen anzufallen. Er werde dafür sorgen, warf er sich schon am vierten Kriegstag – allerdings in seinen Tagebuchaufzeichnungen – in die Brust, daß »das Volk halten wird«. Im Grunde erachtete er die Aufgabe nicht als sonderlich groß oder gar kompliziert, denn das Volk sei »ruhig und gefaßt« und »voll einer erbitterten Entschlossenheit«. Doch dann, der Feldzug gen Osten hatte noch keine zehn Tage gedauert, notierte er, die »Volksgenossen« würden bis jetzt nicht glauben, »daß es zum großen Krach kommt«. Als die Kriegshandlungen im Osten zunächst beendet waren, befand er zwar, die Stimmung im Lande sei ausgezeichnet, gestand sich aber ein: »Alles ist abwartend«. Und: »Man hofft wohl insgeheim auf einen Frieden mit Frankreich«. So sahen das auch die Informanten des Exilvorstands der Sozialdemokratie. Ein in Paris eingegangener Bericht aus Bayern besagte: »Ein wesentlicher Teil der Bevölkerung hofft noch immer, daß die Franzosen doch nicht mitmachen werden und die Sache deshalb bald zu Ende gehe.«

Euphorie nach »Polenfeldzug«

In der Geschichtsschreibung wird ein Bild gezeichnet, wonach die Deutschen in einer Mischung von Loyalität, Vertrauen und Liebe ihrem bewunderten Führer, bangend zwar, in den Krieg gefolgt seien und seinen Krieg zu dem ihren gemacht hätten. Diese Interpretation geht an der Tatsache vorbei, daß sie sich einer Wahlmöglichkeit längst begeben hatten. Sie mußten sich in einer Lage, das mochten sie sich nicht eingestehen, in die sie sich doch auch selbst gebracht hatten, mit den Schritten ihrer Führung abfinden. Und das taten sie in ihrer Mehrheit, die erleichtert war, als die deutschen Heere ostwärts nach Warschau stürmten und die eigenen Verluste gering blieben.

Der Kriegsbeginn schuf keine Beziehungskrise zwischen den Massen und den Machthabern, geschweige, daß er Menschen, die bisher zu deren Gefolgschaft gehörten, in nennenswerter Zahl gegen das Regime in Bewegung gesetzt hätte. Solchen Wandel konnten sich Sozialdemokraten, auch aufgrund ihrer Erfahrungen von 1917/1918, nur nach einer gravierenden Veränderung der Kriegssituation vorstellen: »Erst wenn der Hunger noch mehr anklopft (das tat er 1939 noch nicht, und das änderte sich bis an das Kriegsende nicht; K.P.) und die Nerven zermürbt hat und vor allen Dingen, wenn es den Westmächten gelingen würde, im Westen Erfolge zu erzielen und deutschen Boden in größerem Umfange zu besetzen, dürfte die Zeit zu einem Umsturz heranreifen.«

Als ein Teil der Truppen aus Polen wieder in ihre Garnisonen zurückkehrte und sie Einwohner mit Blumen empfingen, modifizierte sich das Bild. Vieler bemächtigte sich ein »Taumel über die Vernichtung Polens«, notierte Klemperer. Die Genugtuung über den raschen Sieg im Osten verband sich zudem mit falschen Hoffnungen. Der Krieg sei vielleicht gerade erst am Anfang, schrieb William L. Shirer am 21. September, »wenn auch die Deutschen nach der Einnahme Polens ihn gern am Ende sähen«. Seinen Eindruck bestätigend, hielt er am 5. Oktober fest: »Die Menschen hier wollen gewiß Frieden.« Dieser Stimmung trug das Zentralblatt der NSDAP, der Völkische Beobachter, am 30. September Rechnung, als es nach dem Angriff auf das Nachbarland schrieb: »Ganz Europa wartet auf das Wort des Friedens aus London. Wehe denen, die es verweigern. Sie werden eines Tages von ihrem eigenen Volk gesteinigt werden.«

Worüber sich die Deutschen in jenen ersten Kriegswochen am wenigsten Gedanken machten, war das Leid, das ihr Einfall in das Nachbarland über dessen Bewohner brachte. Zum einen wurden ihnen die Polen während des Feldzugs und in den Wochen danach durch fortgesetzte Meldungen über Greueltaten als Barbaren dargestellt, die eine Unzahl von im Lande lebenden Volksdeutschen viehisch massakriert hätten. Und zum anderen, das übernahm Hitler selbst, wurde behauptet, daß die eigene Kriegsführung das Leben der Zivilisten achte und schone. In Danzig erklärte er: »Ich habe der deutschen Luftwaffe den Auftrag gegeben, daß sie diesen Krieg human, d.h. nur gegen kämpfende Truppen führt.« Ja, so Hitler weiter, es liege den Deutschen nicht, Krieg gegen Frauen und Kinder zu führen. »Wenn natürlich eine Kolonne über einen Marktplatz marschiert, und sie wird von Fliegern angegriffen, dann kann es passieren, daß dem leider auch ein anderer zum Opfer fällt. Grundsätzlich haben wir das Prinzip der Schonung durchgehalten.« Hier war Lüge an Lüge gereiht. Denn in Wahrheit waren am frühen Morgen des ersten Kriegstages in der grenznahen polnischen Kleinstadt Wielun unter dem Bombenhagel deutscher Sturzkampfflugzeuge schon 1200 der 16000 Einwohner gestorben und die Stadt in ein Trümmerfeld verwandelt.

Die als »Feldzug der 18 Tage« gefeierte Niederwerfung Polens erzeugte in der Bevölkerung keinen Appetit auf mehr. Am 20. September notierte William L. Shirer: »Alle Deutschen, mit denen ich heute sprach, gehen felsenfest davon aus, daß wir innerhalb eines Monats Frieden haben werden.« Wie gleichzeitige Informationen des Sicherheitsdienstes besagten, rechneten viele mit einem Abbruch des Krieges und hofften darauf, daß sich die Regierungen Großbritanniens und Frankreichs mit den geschaffenen Tatsachen abfinden würden. Doch in London und Paris hatte sich, wenn auch spät, der Gedanke durchgesetzt, daß sich einer militärischen Auseinandersetzung mit diesem Regime nicht ausweichen ließ.

Victor Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933–1945, 8 Bände, Aufbau Verlag Berlin

William L. Shirer, Berliner Tagebuch, 2 Bände (»Aufzeichnungen 1934–1941« und: »Das Ende: 1944–1945«). Aufbau Verlag Berlin


* Aus: junge Welt, Montag 1. September 2014


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