Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Gerechtigkeit für Distomo

Auch deutsche Aktivisten machen sich für Entschädigungszahlungen an Griechenland stark

Von Anke Stefan, Athen *

Über 100 Menschen haben am Wochenende in Athen für Entschädigungszahlungen Deutschlands wegen der Nazi-Verbrechen demonstriert, darunter auch Aktivisten aus Hamburg.

Vor genau 70 Jahren, am 10. Juni 1944, verübten deutsche Faschisten ein fürchterliches Verbrechen im kleinen griechischen Ort Distomo. Fast die Hälfte der damals etwa 500 Einwohner des nahe Delphi gelegenen Dorfes, insgesamt 218 Männer, Frauen und Kinder, wurden von SS-Truppen ermordet. Die Täter wurden nie strafrechtlich verfolgt, die Opfer und ihre Angehörigen bis heute nicht entschädigt. Und Distomo ist nur einer von vielen Orten in Griechenland, an denen die Nazibesatzer Massaker verübten.

Im Fall Distomo wehrt sich Deutschland bisher erfolgreich gerichtlich gegen alle Forderungen von Opfern und ihren Hinterbliebenen. Eine vom Obersten Gerichtshof beschlossene Pfändung staatlichen deutschen Eigentums in Athen scheiterte am Veto des griechischen Justizministers. Eine über Italien angestrengte Klage gelangte bis vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag, der Deutschland dann Staatenimmunität zubilligte. Doch die Forderungen nach Gerechtigkeit und Wiedergutmachung sind damit nicht verstummt. In Griechenland kümmert sich darum vor allem der Nationalrat für Entschädigungsfragen.

Sein Vorsitzender Manolis Glezos riss im Mai 1941 zusammen mit seinem damaligen Kommilitonen Apostolos Santas die Hakenkreuzfahne von der besetzten Athener Akropolis. Der fast 92-Jährige wurde unlängst als Abgeordneter der Linkspartei SYRIZA ins Europaparlament gewählt und hat bereits angekündigt, sich auch dort in dieser Sache zu engagieren. Auch in der griechischen Bevölkerung wächst angesichts der hohen Staatsschulden und der anhaltenden Krise das Interesse etwa an der Rückzahlung eines Griechenland von den Nazis abgepressten Zwangsdarlehens in Höhe von mehr als 100 Milliarden Euro. Von der einheimischen Regierung werden solche Forderungen jedoch nur sehr zögerlich unterstützt. Erst auf massiven Druck der Opposition wurde im Vorjahr eine Untersuchungskommission eingesetzt, die die Höhe der an Deutschland zu stellenden Forderungen berechnen soll. Das Ergebnis liegt bis heute in verschlossenen Schubladen.

Auch in Deutschland ist die Frage nach einer Entschädigung nicht gerade populär. Trotzdem gibt es auch im Land der Täter Menschen, die sie sich auf die Fahnen geschrieben haben. So reiste anlässlich des Jahrestages des Massakers von Distomo auch in diesem Jahr eine Delegation des 2001 gegründeten gleichnamigen Hamburger Arbeitskreises nach Griechenland, um den Opfern und ihren Hinterbliebenen ihre Solidarität zu demonstrieren und zu zeigen, »dass nichts vorüber ist«, wie es Martin Klingner ausdrückt.

»Das Thema spielt heute wieder ein größere Rolle als noch vor zwei Jahren«, erläuterte der Rechtsanwalt im Gespräch mit dieser Zeitung. »Damals war die Frustration über die Entscheidung von Den Haag groß, aber das hat sich wieder geändert. Heute sagen die Menschen wieder: Ohne Gerechtigkeit gibt es auch kein Ende.« Klingner sieht denn auch durchaus noch Möglichkeiten. Die in Den Haag festgestellte Staatenimmunität gelte zunächst einmal nur für die Klage in Italien, Griechenland dagegen sei daran nicht gebunden. Hier könne der Justizminister jederzeit die Pfändung deutschen Staatseigentums im Lande anweisen. Und auch Italien lasse derzeit vor dem eigenen Verfassungsgericht prüfen, inwieweit mit dem Haager Urteil die Individualrechte europäischer Bürger verletzt worden seien.

Doch für den Arbeitskreis ist das Thema kein vorwiegend juristisches, sondern vor allem ein politisches. Ihre erste Veranstaltung hatte die 24-köpfige Delegation diesmal in den westlich von Athen liegenden und unter fast 100-prozentiger Arbeitslosigkeit leidenden Werftengürtel geführt. Dort wurden keine Massaker von den Faschisten verübt, doch ihre neuen griechischen Nachfahren sind in der Gegend erschreckend stark. In der rege besuchten Veranstaltung im Sozialzentrum von Perama war man sich deswegen auch einig, dass Antifaschismus und Wiedergutmachung zusammen gedacht werden müssen. Die Neofaschisten der griechischen Partei Goldene Morgendämmerung hätten auch deswegen soviel Zulauf bekommen, weil Faschismus nie richtig aufgearbeitet wurde. Weil die Täter bis heute nicht bestraft und die Opfer nicht entschädigt worden sind.

* Aus: neues deutschland, Dienstag 10. Juni 2014


70. Jahrestag des Distomo-Massakers: Bundesregierung vergießt Krokodilstränen

Pressemitteilung von Ulla Jelpke

„Die Überlebenden von Distomo verdienen nicht nur Anerkennung, sondern auch Entschädigung“, erklärt Ulla Jelpke aus Anlass des 70. Jahrestages des Massakers von Distomo. Dort wurden am 10. Juni 1944 von einer SS-Polizeieinheit 218 Zivilistinnen und Zivilisten ermordet. Die innenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE. weiter:

Es gibt bestimmt auch diesmal wieder salbungsvolle Worte des Bedauerns von deutschen Staatsvertretern, die Botschaft ist bei der Trauerfeier in Distomo anwesend. Krokodilstränen kosten ja nichts. Aber wenn es um das Recht der Überlebenden auf Entschädigung geht, hat Deutschland von Anfang an und bis heute komplett versagt. Wehrmacht und Waffen-SS haben während der Besetzung Griechenlands Dutzende von Massakern begangen. Überlebende und Angehörige der Opfer haben dafür niemals eine Entschädigung erhalten. Die Täter hingegen sind nie bestraft worden und konnten bis an ihr Lebensende friedlich ihre Renten verzehren. Schon von daher wäre es ein Zeichen ernstgemeinter Wiedergutmachung, die sture Entschädigungsverweigerung endlich aufzugeben. Solange Deutschland seiner Verantwortung nicht nachkommt, bleibt jede Beileidsbekundung an der Stätte des Verbrechens eine leere Floskel und ein Verhöhnen der Opfer.“

Berlin, den 10. Juni 2014




Mit Maschinengewehrfeuer niedergemäht oder verbrannt

Vor 70 Jahren ermordete die SS im französischen Dorf Oradour über 600 Menschen / BRD-Justiz hat sich einer Aufarbeitung stets verweigert

Von Ralf Klingsieck, Paris **


Das Massaker von Oradour-sur-Glane mit seinen 642 Opfern hat in Frankreich eine tiefe Wunde hinterlassen, die bis heute schmerzt.

Vier Tage nach der Landung alliierter Truppen in der Normandie wurde im mittelfranzösischen Dorf Oradour-sur-Glane eines der grausamsten Verbrechen des Zweiten Weltkriegs verübt. Daran erinnern heute noch die Ruinen der 123 niedergebrannten Häuser. Angehörige der SS-Division »Das Reich«, die im Eilmarsch von Südfrankreich in die Normandie unterwegs war, um dort die Alliierten aufzuhalten, und die immer wieder von Kämpfern der Résistance angegriffen wurden, haben den Ort besetzt und die gesamte Bevölkerung ermordet – 642 Menschen, darunter 240 Frauen und 205 Kinder. Von den Leichen konnten nur 52 identifiziert werden.

Divisionskommandeur General Heinz Lammerding wollte zur Abschreckung ein Exempel statuieren und hatte die »komplette Vernichtung« befohlen. Die Männer wurden zusammengetrieben und mit Maschinengewehrfeuer niedergemäht, die Frauen und Kinder in die Kirche eingesperrt, die dann mit Benzin und Handgranaten in Brand gesteckt wurde. Alle kamen grauenhaft ums Leben. Anschließend wurde der ganze Ort niedergebrannt.

Weniger als ein Dutzend Menschen konnte flüchten. Von ihnen lebt heute nur noch einer – Robert Hébras. Im Gegensatz zu den Lügen der SS-Leute, die auch später immer wieder behaupteten, Oradour sei ein »Bandennest« voller Waffen und Sprengstoff gewesen, gab es hier keine Widerstandsgruppe. Ein Militärgericht in Bordeaux hat 1953 sieben deutsche und 14 elsässische SS-Angehörige – darunter kein einziger Offizier – für die Beteiligung an dem Massaker zu Gefängnisstrafen verurteilt. General Lammerding, den ein französisches Gericht 1951 in Abwesenheit zum Tode verurteilt hatte, war in Bordeaux als Zeuge geladen, aber die »Rechtsschutzstelle des Auswärtigen Amtes« der BRD riet von der Reise ab, denn es sei »mit einer Verhaftung durch die Franzosen zu rechnen«.

1983 fand in der DDR-Hauptstadt Berlin ein Prozess gegen den ehemaligen SS-Untersturmführer Heinz Barth statt, der dank falscher Angaben über seine Offizierskarriere im Krieg lange unbehelligt in Gransee gelebt und beim Konsum gearbeitet hatte. Barth wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, kam aber nach der deutsch-deutschen Vereinigung frei und erhielt eine Kriegsversehrtenrente.

Hébras, der im Barth-Prozess Zeuge war, würdigte gegenüber »nd«, dass die DDR Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt hat, während sie im Westen meist ungeschoren blieben oder gar Karriere machten. So wurde Lammerding ein erfolgreicher Bauunternehmer in Düsseldorf. Er starb 1971, ohne dass ihn die Justiz je behelligt hätte. 200 SS-Kameraden, darunter 20 Ritterkreuzträger, folgten seinem Sarg, auf dem seine Orden prangten. Bis zuletzt hatte Lammerding behauptet, das Massaker in Oradour sei eine »Eigenmächtigkeit« von Kompaniechef Otto Kahn gewesen, für die er ihn »gerügt« habe. Wie praktisch, dass Kahn Wochen nach Oradour im Krieg starb.

In den Nachkriegsjahren wurde die Lüge von der »Vergeltung für Verbrechen der Widerstandsgruppen« gepflegt und hat bis in unsere Tage Eingang in viele Bücher gefunden. SS-Obersturmbannführer Otto Weidinger schrieb in der Zeitschrift der SS-Nachfolgeorganisation HIAG, ohne einen dicken Schlussstrich unter den unseligen Kampf der Résistance gegen die Division »Das Reich« könne es auch keine endgültige Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich geben. »Wir (die SS, d. A.) sind dazu bereit.« Eine schauerliche Vision – die Opfer sollen den Mördern vergeben.

Viele Jahre lang hat die Bevölkerung der neben den Ruinen neu errichteten Ortschaft Oradour, in der jetzt Angehörige und Nachfahren der Opfer leben, bei den jährlichen Gedenkveranstaltungen keine deutschen Regierungsvertreter geduldet. Als erster Bundeskanzler äußerte sich 2004 Gerhard Schröder zum Massaker von Oradour und bat die Bürger des Ortes um Entschuldigung. Erst 2013 ist mit Joachim Gauck ein deutsches Staatsoberhaupt nach Oradour gekommen. Zusammen mit Präsident François Hollande ließ er sich in einer Geste der Versöhnung von Hébras das Martyrium von Oradour schildern.

** Aus: neues deutschland, Dienstag 10. Juni 2014


Zurück zur Kriegsgeschichte-Seite

Zur Kriegsgeschichte-Seite (Beiträge vor 2014)

Zur Griechenland-Seite

Zur Griechenland-Seite (Beiträge vor 2014)

Zur Frankreich-Seite

Zur Frankreich-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage